„Manchmal merke ich, dass ich auch wie mein Vater bin“

Es war wohl ein Hirnschaden, sagt Herbert Meyer. Der 74-Jährige gilt als geistig behindert. Das hindert ihn aber nicht daran, sein Leben zu reflektieren und seine Gedanken darüber auch selbst zu erzählen

Herbert Meyer würde lieber auf dem Land als in der Stadt wohnen Foto: Sandra Merseburger

Von Herbert Meyer

Geboren bin ich am 15. Juli 1944 als Sohn von Otto Gotthilf Meyer und Elsa Meyer, geborene Tieme. Mein Geburtsort ist Farnstädt, ein kleines Dorf im Kreis Querfurt bei Halle. Ich bin also ursprünglich aus Sachsen-Anhalt. 1947 kam meine Schwester Angela Reinhild hinzu. Eigentlich bin ich also ein Landmensch. Wir sind, als ich noch klein war, nach Rothenschirmbach umgezogen, ein Nachbarort, wo unsere Verwandtschaft lebte.

Ich kann mich nicht genau erinnern, aber es muss wohl so gewesen sein, weil ich dort erst eingeschult worden bin. Ich erinnere mich auch an die Zuckertüte meiner Schwester. Es war eine Dorfschule, wo die Kleineren mit den Größeren zusammen lernten, dort wohnten wir mit den Eltern meines Vaters zusammen.

Ich hatte eine schöne Kindheit. Nur schade, dass ich keine Musik machen durfte.

Eines Tages, Vater war mit Mutter unterwegs, mussten wir zum Spritzenhaus. Dort wartete ein Lkw und nahm uns mit. Wir sind nach Berlin gefahren und dann von Tempelhof nach Hannover mit dem Zug nach Heinsberg ins Lager. Von dort noch mal ins Flüchtlingslager Solingen. Wir waren also aus der DDR geflohen.

Wir sind dann nach Pforzheim gezogen, ins Schwabenland. Als Sachsen! Schwaben sind unfreundlich zu Flüchtlingen.

Mein Vater fand Arbeit als Schaffner, meine Mutter bei der Uhrenfabrik Laco in Pforzheim. Dort kam ich 1955 auf die „Eselsschule“. Die Hilfsschule, wo ich blieb, bis ich 15 Jahre alt war. Nachmittags musste ich in den Hort. Das hat mir nicht gefallen.

Ich habe mich als Kind nicht wohlgefühlt in meiner Haut und hatte oft traurige Gedanken. Das war 1959, zwischendurch wurde ich auch mal stationär aufgenommen, kann mich aber weder an den Grund, den Ort noch an die Zeit erinnern.

In der Schule war ich nicht gut, aber ruhig und höflich. Nach der Schule wurde ich Hilfsarbeiter, zuerst Gärtner. Die Arbeit gefiel mir eigentlich, aber die Gärtnerei wurde schnell aufgegeben, und so blieb ich nicht lange dort. Auch als Arbeiter bei Erwa-Optik ging es nicht lange gut, ich habe mir an einer Maschine einen Finger gequetscht, sodass ich bald wieder wechseln musste.

Ich habe dann 25 Jahre in der die Galvanik gearbeitet, aber das bot keine Verbesserung. Es stank dort, und am Ende hatte ich keine Lust mehr auf die Galvanik und bin nicht mehr hin.

Die sogenannten geistig Behinderten werden in Heimen versorgt und von Ämtern verwaltet. Die meiste Zeit wird nicht mit ihnen, sondern über sie geredet. Dabei kann niemand ihre Geschichten so gut erzählen wie sie selbst. Das einzigartige Biografieprojekt „Wie ich wurde, wer ich bin“ macht neun dieser Geschichten zugänglich.

Auf der Veranstaltung wird daraus gelesen, die ErzählerInnen sind zum Teil vor Ort. Lesende sind David Permantier, Betreuer bei der Lebenshilfe e. V. und Initiator des Projekts, sowie Glinda Spreen, Betreuerin bei der Zukunftssicherung e. V.; Moderation: Manuela Heim, Redakteurin der taz.berlin.

Der Veranstaltungsort ist barrierefrei zugänglich. Das Gespräch wird in Gebärdensprache übersetzt. Außerdem twittert das Team von taz.leicht in Leichter Sprache. Die Lesung findet am heutigen Mittwoch, 15. August, um 18.30 Uhr im taz Café, Rudi-Dutschke-Straße 23, Kreuzberg, statt. Der Eintritt ist frei. (taz)

Zu Hause lebte ich mittlerweile mit meinen Eltern alleine. Meine kleine Schwester war nach Berlin gegangen und arbeitete als Optikerin. Heute hat sie dort ein schönes Geschäft. Ich hatte mich immer gut mit ihr verstanden und vermisste sie.

Vater war verschlossen und unnahbar für mich. Er arbeitete später als Bankangestellter, redete nicht viel mit mir und war streng.

Meine Mutter war eher weltoffen und unternehmenslustig, und wir haben viele Ausflüge zusammen gemacht. 1979 fuhr sie nach Borkum in Kur und hatte einen Badeunfall. Sie war tot, das war das Schlimmste, was mir je passiert ist. Nach der Beerdigung nahm sich die Oma das Leben. Das war alles so schlimm, da kann man sich kein Begriff machen.

Ich blieb mit meinem Vater alleine zurück, meine Schwester war ja schon in Berlin. Das war schwierig für mich, das Zusammenleben mit ihm. Wir hatten kein richtiges Vater-Sohn-Verhältnis. Schon der Großvater war ein Choleriker. Immer war alles falsch, es war schwer, ihm etwas recht zu machen.

Manchmal merke ich, dass ich auch wie mein Vater bin. Ich hasse es, wenn Menschen mir zu nahe kommen oder zu laut sind. Ich spüre dann die Nähe zum Vater.

Er war aber auch ein Maler und hatte eine künstlerische Ader, er war ein kultivierter Mann, von dem ich viel gelernt habe. Wir haben bis zu seinem Tod 1986 zusammen in dem Haus in Pforzheim gewohnt. Herzanfall.

Ich hatte nie viele Freunde. Ich war ein Einzelgänger. Ich bin schwul, das habe ich schon als junger Mann gemerkt, aber für mich behalten. Mein Vater hat es nie gewusst. Ich mag es nicht, darüber zu reden, es ist auch nicht so wichtig. Ich mag es nicht, wenn sich Bekanntschaften Dinge herausnehmen, dann sage ich ganz schnell: Schluss, aus, das war es jetzt!

Als mein Vater starb, wurde alles wieder anders. Da war ich dann 42 Jahre alt, und meine Schwester kam und nahm mich mit nach Berlin, wo ich nun seit dreißig Jahren lebe. Sie kümmerte sich um mich, und ich weiß nicht, was ich ohne sie gemacht hätte. Ich habe dann bei ihr gewohnt, das war aber auch nicht einfach. Seit ich ausgezogen bin, ist es wieder besser.

Das Buch „Wie ich wurde, wer ich bin. Biografien von Menschen, die behindert wurden“ wurde von David Permantier herausgegeben Fotos: Sandra Merseburger

Es ist gegen eine Schutzgebührvon 4,90 Euro erhältlich bei: Zukunftssicherung Berlin e. V., Mierendorffstraße 25, 10589 Berlin, (0 30) 2 21 91 30 00 oder gengel@zukunftssicherung-ev.de

Ich komme zurecht. Die Stadt ist mir eigentlich zu laut und trubelig. Hier in Charlottenburg, wo ich wohne, geht es noch, aber an vielen anderen Orten ist es unmöglich. Ich bin ein Landmensch geblieben, gehe gern spazieren und habe meine Ruhe.

Meiner Schwester wurde es unterdessen zu viel, sich um mich zu sorgen. Und so kam ich zum betreuten Einzelwohnen und zu einem Amtsbetreuer.

Eigentlich werde ich gerne betreut und komme auch in den Treffpunkt, aber bei den Gruppen ist es oft zu laut, das gefällt mir nicht so. Wenn ich unterwegs bin, merken andere erst mal nicht, dass ich Dinge nicht verstehe. Warum das so ist, weiß ich nicht genau, hohes Fieber vielleicht?

Ich hab gemerkt, dass was nicht stimmt. Ich hatte wohl einen Hirnschaden. Aber ich war immer ordentlich und manierlich. So bin ich immer gut gefahren.