HAMBURGER SZENE VON ILKA KREUTZTRÄGER
: Formvollendet

Am Wochenende zwischen Museumshafen und Teufelsbrück an der Elbe spazieren zu gehen, kann mühsam sein. Sobald es nicht ununterbrochen regnet, sind hier viel zu viele Menschen unterwegs. Und nerven einander: Fußgänger motzen Radfahrer an, Radfahrer klingeln Fußgänger aus dem Weg und ständig rollt irgendwer wahnsinnig angestrengt mit den Augen.

Mitten in dem verärgerten Gewusel steht oberhalb des Alten Schweden ein kleiner Junge mit weißblonden Haaren am Rand des Weges. Schaut etwas verträumt in der Gegend herum, kaut auf seinem Finger und sieht irgendwie aus, als wäre er ganz allein hier. Dabei ist er höchstens drei Jahre alt. Alle weichen ihm aus, fahren um ihn herum und beachten ihn nicht weiter. Bis zwei türkische Jungs auf ihn aufmerksam werden, der ältere dürfte so um die elf Jahre alt, der andere ein paar Jahre jünger. Langsam wagen sie sich vor.

„Hallo“, sagt der Ältere. „Allein hier? Keine Mutter?“ Keine Antwort, nur erstauntes Anstarren und weiter auf dem Finger kauen. Also anders: Er beugt sich runter, schaut dem Kleinen in die Augen: „Entschuldigen Sie, wie heißen Sie? Wo ist Ihre Mutter?“ Daran könnten sich die anderen Ausflügler mal ein Beispiel nehmen: statt Gehen-Sie-mir-aus-dem-Weg-Sie-Arsch, einfach mal ein bisschen formvollendete Höflichkeit.