G wie Gut

SCHULE Zwei Studien haben untersucht, wie Waldorf-Pädagogik Kenntnisse vermittelt

Gründe für das bessere Lesen der Waldorf-Schüler konnte man nur vermuten

VON CHRISTOPH RASCH

G wie Grundschüler – einer der 26 Buchstaben des deutschen Alphabets, den Kinder an Waldorfschulen durchaus anders lernen als Abc-Schützen an vielen staatlichen Grundschulen: „Wir bauen auf dem Schulhof ein riesiges G aus Holz und Steinen, dessen Form die Kinder mit Händen und Füßen erfahren können“, sagt Waldorflehrer Henning Kullak-Ublick, der über Jahrzehnte Kinder von der ersten Klasse an unterrichtete – und ihnen mit kreativen Spielen Lesen und Schreiben beibrachte: „Oder wir erzählten den Schülern die Geschichte von der Gans, deren Körper aufgemalt auf der Tafel immer mehr zum Buchstaben G wurde“, berichtet Kullak-Ublick, der heute im Vorstand beim Bund der freien Waldorfschulen arbeitet: „Entscheidend ist“, sagt er, „dass die Schüler geistig tätig werden.“

Lesen, Schreiben, Rechnen: Werden die klassischen Lerninhalte tatsächlich effektiv vermittelt an den 230 deutschen Waldorfschulen, die landläufig eher für rhythmische Bewegungsübungen und naturnahe Erlebnispädagogik bekannt sind? Offenbar ja. Deutsche Bildungsexperten jedenfalls stellen den Lernkonzepten der Waldorfschulen ein äußerst gutes Zeugnis aus. Auf einer Pressekonferenz Ende September in Berlin stellte der Bildungsexperte der OECD und Beauftragte für die Pisa-Studien, Andreas Schleicher, eine Untersuchung vor, die die Lernerfahrungen von mehr als 800 Schülern evaluiert hat.

Das Fazit: Waldorfschüler in Deutschland lernen offenbar freudiger, langweilen sich seltener und können sich selbst besser einschätzen – nicht zuletzt, weil sie sich von ihren Lehrern bestätigt fühlen. „Schüler, die frei von Leistungsdruck, Prüfungsstress und Angst vor Mobbing in die Schule kommen, bringen eindeutig günstigere Voraussetzungen für das Lernen mit“, sagt Heiner Barz, Professor an der Uni Düsseldorf, der die Studie mit erstellt hat. Ein Beispiel: Knapp 65 Prozent der Waldorfschüler gaben an, dass sich die Lehrer „für den Lernfortschritt jedes einzelnen Schülers interessieren“ – bei den Regelschülern staatlicher Einrichtungen konnten dies lediglich 30 Prozent bestätigen.

Und auch der fehlende Notendruck spiele laut der Untersuchung eine Rolle: „Die Studie zeigt, dass die Waldorfschüler mit ihren Berichtszeugnissen wesentlich zufriedener sind“, so Lehrer und Waldorfschulen-Vorstand Kullak-Ublick. Ein Kernelement anthroposophischer Pädagogik sei zudem „die Betonung der Selbsteinschätzung des Schülers: Wo stehe ich – und welche Aufgaben kann ich lösen?“

Und apropos Noten: Zwischen den – an jeder Schule verbindlichen – Abschlusszensuren von Waldorf- und Regelschülern bestehen keine statistischen Unterschiede, auch die Anzahl der Abitur- und Realschulabschlüsse sei in den beiden Schulformen etwa gleich groß. Die rund 85.000 deutschen Waldorfschüler liefern also mindestens gleich gute Lernergebnisse ab – und haben auch noch mehr Spaß dabei? Die Düsseldorfer Studie würde diese These untermauern, sagt Kullak-Ublick. Und nicht nur die.

Eine andere Untersuchung machte vor einigen Monaten Schlagzeilen. Sie verglich die Sprachkenntnisse und -entwicklung von 350 neuseeländischen Schülern an staatlichen und Waldorf-Einrichtungen miteinander – und sorgte für Diskussionsstoff in der anthroposophischen Szene. Das Ergebnis, zu dem die Forscher damals kamen: Im Alter von elf Jahren verfügten die Waldorfschüler über eine bessere Lesefähigkeit als ihre Altersgenossen an konventionellen Schulen. Und das, obwohl die Waldorfschüler üblicherweise erst zwei Jahre später – mit sieben statt mit fünf Jahren – mit dem Lesen begonnen hatten. Schon vorher, im Alter von neun und zehn Jahren, waren beide Gruppen bei der Leseleistung, der Vortragsflüssigkeit und dem Leseverständnis gleichauf – trotz des zeitlichen Vorsprungs der staatlichen Schüler.

„Die Waldorfpädagogik setzt schon früh den Schwerpunkt auf die lebendige Sprache“, erklärt der Wissenschaftler Sebastian Suggate dieses Phänomen. Der 31-Jährige ist Koautor der neuseeländischen Studie und forscht an der Universität Regensburg über die Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen. Den in Medienberichten gezogenen Schluss, dass Waldorfschüler laut der neuseeländischen Studie generell „besser lesen“, will Suggate aber so nicht unterschreiben. Denn wirklich eindeutige Gründe für das bessere Lesen der elfjährigen Waldorfschüler konnten die Forscher nicht festmachen, sondern nur vermuten.

„Der Fokus auf dem gesprochenen Wort kann ein wichtiges Element sein, um die spätere Lesekompetenz zu unterstützen“, sagt er. Heißt: Wenn die sprachliche Grundlage und der Wortschatz gut ausgebildet sind, dann verbessert das langfristig auch das Verständnis von gelesenen Texten. „Schon im Waldorfkindergärten wird viel Wert auf erzählte Geschichten und kreative Vermittlungsformen gelegt.“ Auch die Schulen nähmen sich viel Zeit für das gesprochene oder in anderer Form erlebte Wort, Stichwort G wie „Gans“. Die verkürzende Studien-Einschätzung in den Medien rief Kritiker außerhalb der Waldorf-Community auf den Plan.

Skeptische Blogger machten ihren Zweifeln Luft – und verwiesen zudem auf die Besonderheiten der englischen Sprache, die sich mit dem Lesenlernen an deutschen Schulen nicht vergleichen ließen. „Ich war überrascht, dass die Studie in der Szene und bei vielen Waldorf-Eltern so positiv dargestellt wurde und bei anderen so viel Kritik hervorrief“, sagt der Forscher heute.

Die Einwürfe von Skeptikern, dass Waldorfschüler nun mal bessere Leistungen erzielten, weil sie a) weniger vor dem Fernseher sitzen und b) häufiger aus sozial gut gestellten Elternhäusern stammen, hält der Regensburger Wissenschaftler in Sachen Lesekompetenz für nebensächlich – er sieht die Hauptgründe durchaus in Elementen der Waldorfpädagogik begründet. Und: eine Übertragbarkeit der neuseeländischen Ergebnisse auf das deutsche Schulsystem hält Suggate für gegeben. Denn Buchstaben aus Holz und Steinen – wie an so mancher Waldorfschule gebräuchlich – lassen sich nun mal in jeder Sprache auf dem Schulhof aufbauen.