Grenzgebiet unter Beschuss

ESKALATION Türkische Armee greift nach dem Granatenbeschuss auf ein türkisches Dorf militärisch in den Syrienkrieg ein. Parlament billigt Einsätze

ISTANBUL taz | Seit der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag hat sich die Situation an der türkisch-syrischen Grenze dramatisch verschärft. Erstmals seit Beginn des Bürgerkrieges hat die türkische Armee aktiv in die Kämpfe eingegriffen und einen syrischen Militärposten beschossen. Dabei sollen etliche syrische Soldaten getötet worden sein.

Die türkische Armee reagierte damit auf einen Granatenbeschuss von syrischer Seite, durch den im Dorf Akcakale am späten Mittwochnachmittag fünf Zivilisten, darunter drei Kinder, getötet und weitere 18 Personen zum Teil schwer verletzt wurden. Ein Sprecher der syrischen Regierung hatte sich bereits in der Nacht zum Donnerstag entschuldigt, sein Beileid den Familien der Opfer ausgesprochen und eine Untersuchung angekündigt.

Trotzdem setzte die Armee am Donnerstagmorgen nach Berichten türkischer Medien den Beschuss des syrischen Militärcamps fort. In Akcakale begannen unterdessen die Aufräumarbeiten, etliche Gebäude sind durch den syrischen Granatenbeschuss beschädigt worden. Ein Drittel der Bewohner sollen die Kleinstadt mittlerweile verlassen haben.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte in der Nacht zum Donnertag eine Stellungnahme verbreiten lassen, in der es heißt, dass die Armee keine Grenzverletzung durch syrische Soldaten mehr unbeantwortet lassen werde. In Akcakale waren schon vor zwei Wochen mehrere Personen durch Gewehrschüsse von der syrischen Seite aus verletzt worden. Aufständische und Regierungstruppen kämpfen um die Kontrolle des nahe gelegenen Grenzüberganges Tel Abyad.

Das türkische Kabinett hatte noch in der Nacht eine Vorlage für das Parlament vorbereitet, mit dem die Regierung ermächtigt werden soll, zukünftig ohne weiteren Parlamentsbeschluss in Syrien intervenieren zu können. Über dieses sogenannte Teskere wurde im Parlament heftig diskutiert; die Opposition wirft der Regierung vor, durch die Unterstützung und Bewaffnung der syrischen Opposition schon länger eine Kriegspolitik zu betreiben.

Auch in der türkischen Öffentlichkeit wird die aggressive Haltung der Regierung Erdogans gegen das Assad-Regime sehr kritisch gesehen. Die Mehrheit der Bevölkerung will nicht in den syrischen Bürgerkrieg hineingezogen werden. Bekannte Kolumnisten wie Kadri Gürsel von Milliyet werfen Erdogan und seinem Außenminister Ahmed Davutoglu vor, sich mit ihrer „Kriegspolitik“ gegenüber Syrien völlig verschätzt zu haben. „Assad ist entgegen den Erwartungen nicht schnell gestürzt, und die Unterstützung des Westens für die türkische Politik ist ausgeblieben“, sagte Gürsel gestern in CNN-Türk.

Die Ermächtigung für mögliche Militärinterventionen wurde am Donnerstag mit der Mehrheit der Regierungspartei, wie zu erwarten war, verabschiedet.

Aus Regierungskreisen wurde gegenüber der Presse allerdings gestreut, Erdogan wolle keinen offenen Krieg mit Syrien, es handele sich bei der Ermächtigung nur um einen Vorratsbeschluss für alle Fälle. Allerdings wird in der türkischen Regierung schon länger über die Errichtung einer Sicherheits- oder Pufferzone auf der syrischen Seite der Grenze diskutiert.

Diese Zone, die aus der Luft überwacht werden müsste, sollte dazu dienen, Zuflucht für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge zu bieten, und könnte jetzt außerdem den Rebellen ein von ihnen kontrolliertes Gebiet verschaffen.