berliner szenen
: Liebe nimmt einen Umweg

In der Bahn nach Berlin. Die Bahn stank, die Bahn war sperrig, nichts schmeckte, man kam gefühlt nie an. Nur Geschichten, die gab es wie immer. Da waren sie beide plötzlich. Umständlich versuchte er, beide Koffer hoch auf die Ablage zu heben. Er wollte einmal wieder stark sein. Er schaffte es nicht. Sie lächelte warm, und schob ein wenig. So durfte er das Gefühl behalten, stark zu sein. Ein ganzer Kerl. Irgendwas war anders an ihm. Er zeigte es nicht, eben ein Kerl. Das war ihm vielleicht immer wichtig gewesen. Beide um die 60. Er im lässigen Holzfällerhemd. Er wirkte zerbrechlich. In seinen Augen wohnte verblasste Männlichkeit, die ihm – ich suche verzweifelt nach einem möglichen Grund – abhanden kam.

Sie kramt „Der Mann, der wirklich liebte“ von Hera Lind aus ihrer Tasche und beginnt zu lesen. Immer wieder sucht sie seinen Blick, sie ist voller Sorge. Aber sie kann sie hinter einem Vorhang der Freundlichkeit und Wärme gut verbergen. Diese Sorge würde ihm nicht helfen können, das hat sie über die Jahre gelernt. Oft genug haben sie das besprochen, ich bin mir plötzlich sehr sicher. Er trinkt eine Apfelsaftschorle und liest eine Zeitung auf dem Iphone. Interesse hat er wohl noch an allem. Aber seine Kraft ist nicht die, die sie mal war. Sie schlafen gemeinsam ein. Hand in Hand. Sie wachen gleichzeitig auf. Ich wünsche mir, dass sie jede Nacht so miteinander sind. Und an jedem Morgen. Dieses Gleichzeitige fühlt sich wie Frieden an. Sie haben ihren Frieden gemacht. Jeder für sich, und doch miteinander.

Sie: „Heute sind es genau 15 Jahre.“ Er: „Wir sind länger verheiratet.“ Sie lächelt ihn liebevoll an: „Nein, Dein Schlaganfall“. Er lächelt zurück. „Na dann mal los, die nächsten 15 Jahre warten.“ Sie liest weiter in ihrem Buch. Er die Zeitung. Später schlafen beide wieder gleichzeitig ein. Hand in Hand. Ich schlucke hart. Mike Kleiß