Besonderes Merkmal: herzliche Distanz

Ob als Unireformer, Lehrer, Autor oder Manager der Macht: Glotz liebte den Wechsel zwischen verschiedenen Welten

Wo er am Ende seines Lebens wirklich zu Hause war, ist für Außenstehende nur schwer zu beurteilen. Spätestens seit seiner abrupten Entscheidung im Jahr 2000, die von ihm gegründete Universität Erfurt zu verlassen und auf einen von der Bertelsmann Stiftung finanzierten Lehrstuhl nach Sankt Gallen zu wechseln, hing Peter Glotz der Ruf an, endgültig in die Welt des Managements hinübergewechselt zu sein. Zurück ließ er damals nicht nur eine unfertige Universität, sondern auch eine SPD, in der viele glaubten, ihr früherer Vordenker sei nun ein „Genosse der Bosse“ geworden.

An diesem Bild ist manches richtig und vieles falsch. Richtig ist, dass Peter Glotz Erfurt damals in einem kritischen Stadium verließ. Vorausgegangen war dem allerdings ein Regierungswechsel in Thüringen, in dessen Folge die als ehrgeizige Reformuniversität konzipierte Erfurter Hochschule sukzessive auf eine thüringische Landesuni zurückgestutzt wurde. Für Glotz, der nur wenige Jahre zuvor in seinem Buch „Im Kern verrottet?“ die Übermacht der Kultusbürokratien beklagt hatte, war hier fortan kein Platz mehr.

Richtig ist auch, dass Glotz seit seinem Wechsel in die Schweiz enge Industriekontakte pflegte und den Schweizer Medienkonzern Ringier beriet. Er fühlte sich wohl in der Gegenwart von „Entscheidern“ und von Leuten, die sich durchsetzen konnten. So sah er sich selbst auch. Wer sich allerdings mit der Glotz’schen Perzeption der „Innenausstattung der Macht“ beschäftigt, kann erkennen, dass er dennoch eine innere Distanz zu den Wirtschaftseliten wahrte, dass er sich ihnen zwar habituell anglich, gleichzeitig aber stets ein kritischer Intellektueller blieb. Häufig kam es vor, dass er nach Tagungen mit Spitzenmanagern für den Rest des Wochenendes zu Oskar Lafontaine nach Saarbrücken fuhr – auch noch, als dieser längst geächtet war. Wir haben nach diesen Treffen oft gerätselt, worüber die beiden Männer wohl geredet haben, wenn der eine danach zu Vorträgen in die Züricher Bankenwelt aufbrach und der andere zu Attac-Versammlungen.

Als Doktoranden in Erfurt und Sankt Gallen hätten wir uns aber nie getraut, direkt danach zu fragen. Denn als akademischer Lehrer blieb Glotz unnahbar, ging mittags lieber allein in der Pizzeria essen als mit den Assistenten in die Mensa. Das unter Genossen übliche Du, mit dem wir uns als SPD-Mitglieder hätten ansprechen können, blieb für einige wenige Gelegenheiten reserviert. Wenn man ihn so anguckte, war es schwer, sich vorzustellen, wie Glotz als Willy Brandts Alter Ego 15 Jahre zuvor in verrauchten Kneipen hocken oder als sozialdemokratischer Krisenmanager zu aufgebrachten Stahlkochern reisen konnte.

Obwohl ich Peter Glotz nach meiner Promotion noch seltener sah (schon immer war die Terminfindung mit dem vielreisenden Lehrer schwierig), hatte ich den Eindruck, dass er in den letzten Jahren nachdenklicher geworden war. Lange hat er an dem Buch „Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück“ gearbeitet, das abzuschließen ihm schwerer fiel als bei seinen anderen 25 Büchern, die er überwiegend in den frühen Morgenstunden diktierte. „Die Vertreibung“ spitzt nicht nur sein Credo zu, dass der Nationalstaat ein historischer Irrtum war, sondern arbeitet auch die eigene Geschichte des 1945 vertriebenen Sudetendeutschen auf. Glotz’ Engagement für das umstrittene Zentrum gegen Vertreibung ist nur vor diesem Hintergrund der eigenen Biografie zu erklären.

Er war milder geworden in den letzten Jahren – und umwarb beispielsweise seine ehemalige innerparteiliche Gegnerin Gesine Schwan, die er 1984 brutal aus der Grundwertekommission der SPD gedrängt hatte, intensiv, ganz offensichtlich um Wiedergutmachung bemüht. Auch die Sozialdemokratie war ihm wieder näher.

Peter Glotz hatte noch viel vor. Gerade ist seine Autobiografie vom Verlag angekündigt worden. Viele Veranstaltungen mit ihm waren im Herbst geplant. Die deutsche Linke hat einen ihrer größten Provokateure und wichtigsten Anreger verloren.

THYMIAN BUSSEMER

Der Autor hat bei Peter Glotz promoviert. Er arbeitet an der Europa-Universität Viadrina