„Ich wäre nicht mehr in der Lage dazu“

Ofir Touval, ein Berliner Israeli, erlebt sein Trauma ein zweites Mal: Als junger Soldat musste er 1982 jüdische Siedler auf der Sinai-Halbinsel aus ihren Häusern vertreiben. Obwohl er die Räumung politisch richtig findet, leidet er mit den vertriebenen Familien. Trost fand er im Studium der Psychologie

VON IGAL AVIDAN

Jüdische Siedler bewerfen anrückende israelische Truppen mit Geschirr und Hausrat und überschütten sie mit Säure. Sie werden handgreiflich, als sich die unbewaffneten Soldaten von Haus zu Haus vorarbeiten, um die Gebäude zu räumen.

Wenn der Berliner Israeli Ofir Touval, 43, die Bilder der gewaltsamen Räumung jüdischer Siedlungen im Gaza-Streifen im Fernsehen anschaut, werden seine traumatische Erinnerungen wieder wach. Vergeblich versuchte er sie zu verdrängen. 1982 musste er als junger Soldat Siedler auf der Sinai-Halbinsel aus ihren Häusern vertreiben. Dazu hatte sich Israel im Friedensvertrag mit Ägypten verpflichtet. 7.000 Siedler wurden geräumt, manche mit Gewalt. Den größten Widerstand leisteten, damals wie heute, zugereiste Radikale, darunter Anhänger der rassistischen Kach-Gruppe, Siedler aus Hebron und rechts-nationale Studenten unter der Führung von Zachi Hanegbi, heute Minister in der Regierung Scharon.

Die schlimmste Erfahrung des damals 20-jährigen Soldaten Touval war es, Menschen aus ihren Häusern mit Gewalt herauszutragen. „Ich möchte niemandem so eine Erfahrung zumuten“, sagt er. Eines Tages mussten er und seine Kameraden eine Familie mit Kindern förmlich aus ihrem Haus reißen. Weinend und schreiend, mit Händen und Füßen Widerstand leistend, wehrten sie sich. „Sobald sie vor der Haustür standen, von Soldaten bewacht, kamen große Bulldozer und rissen das Haus vor ihren Augen nieder.“ Die Familie stand weinend dabei und sang: „Al Na Taakor Natua“ – Entwurzele nicht, was gepflanzt wurde. Dieses israelische Lied ist eine Art Hymne der Siedler. „Heute wäre ich als Familienvater nicht in der Lage, Juden aus ihrem Haus zu vertreiben, und das, obwohl ich die Räumung der Siedlungen im Gaza-Streifen unterstütze.“

Im Gegensatz zu den heutigen Soldaten wurden er und seine Kameraden damals keineswegs auf die Räumung vorbereitet. Vor den Einsätzen hatten sie eigentlich ein gutes Verhältnis zu den Siedlern gehabt, doch von einem Tag zum anderen wurden aus den Nachbarn unerbittliche Gegner. Die von Schuldgefühlen geplagten Soldaten bissen die Zähne zusammen und unterdrückten ihre Wut. Nur abends in der Baracke, erzählt Touval, konnten sie ihren Tränen freien Lauf lassen. „Je gewalttätiger die Siedler wurden, desto weniger Erbarmen hatten wir mit ihnen.“

Besonders schlimm fand es Touval, dass die Siedler ihn als „Nazi“ beschimpften. Seine Familie gehört zu den Opfern des Holocaust. Ofir Touval wurde in Israel geboren, 1986 kam er nach Westberlin, wo seine Mutter inzwischen lebte. Er blieb in der Stadt, die seit dem 17. Jahrhundert Heimat seiner Familie war. Sein Großvater Jakob emigrierte zusammen mit seiner Frau Else 1934 nach Palästina. Von den 70 Familienangehörigen, die in Berlin zurückblieben, wurden 69 im Holocaust ermordet.

Nächtelang tauchten die schlimmen Bilder der Räumung in Touvals Träumen auf. Er studierte in Berlin Psychologie und schrieb seine Magisterarbeit zum Thema „Moderne jüdische Identität in Deutschland“. Während des Studiums lernte er seine heutige Frau Andrea kennen, die Tochter des damaligen Außenministers Klaus Kinkel. Es ist wohl kein Zufall, dass Touval heute als Psychologe und Heilpraktiker arbeitet und in der Jüdischen Gemeinde aktiv ist.

Touval spricht gefasst über die Erlebnisse, die ihn jahrelang verfolgten. Erst aus der zeitlichen und räumlichen Distanz – und dank seiner Erfahrungen als Psychologe – kann er mit den jahrelang verdrängten Erinnerungen umgehen. Er versteht nur zu gut, dass es den israelischen Soldaten heute noch schwerer fällt als damals, Siedler zu evakuieren. Damals konnte er sein Tun zumindest noch damit begründen, dass eine Räumung den Frieden mit Ägypten vorantreiben würde. „Diesmal ist das anders. Die Räumung garantiert keinesfalls den Frieden mit den Palästinensern. Das wünschen sich zwar alle, aber ich habe große Zweifel.“ Doch Touval ist auch Optimist. Er hofft noch immer, dass Israelis und Palästinenser einst wieder friedlich miteinander – als Nachbarn – leben können.