Interesse und Ideologie

Der bekannte Ökonom John K. Galbraith entlarvt die Realitätsferne der neoliberalen Denker. Zudem kritisiert er die Verschmelzung zwischen wirtschaftlicher Macht und Staat in den USA

Je weniger man von der Vergangenheit weiß, umso besser lässt sich die Gegenwart gestalten. Dieses verborgene Prinzip scheint die Wirtschaftspolitik heute zu bestimmen. Sonst könnte man die Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts nicht derart ignorieren, wie es zurzeit geschieht. In seinem Essay „Die Ökonomie des unschuldigen Betruges“ setzt nun John Kenneth Galbraith dieser Ignoranz seine historische Erfahrung entgegen.

Wer könnte das besser als dieser Autor? Galbraith ist nicht nur einer der bekanntesten Ökonomen der Gegenwart. Er wurde in den 1950er-Jahren mit seinen Büchern über die Missstände in der Überflussgesellschaft und die Herrschaft der Konzerne bekannt. Er war jedoch nicht nur ein politischer Autor, sondern in verschiedenen Funktionen in der Politik aktiv. Er ist das genaue Gegenteil jener mit dem Gestus der wissenschaftlichen Unfehlbarkeit auftretenden Neoliberalen. Für Galbraith ist Ökonomie eine Sozialwissenschaft: Sie ist ohne Kategorien wie Macht oder Interesse nicht zu denken.

Kapitalismuskritik ist für ihn daher eine schlichte Selbstverständlichkeit. Galbraith empört der Versuch interessierter Gruppen, die Kritik am real existierenden Kapitalismus zu unterbinden. Und das fängt beim Begriff an: In den USA hat man erfolgreich „Kapitalismus“ durch das unverfängliche Wort „Marktwirtschaft“ ersetzt. Er betrachtet diese Umbenennung als „nichts sagend, falsch und schönfärberisch“. Sie diene nur zur Verschleierung der Macht von Interessengruppen – vor allem von Konzernen. Deren Praxis bestehe in der Verhinderung von Wettbewerb und in der Manipulation des Verbrauchers. Die scheinbar unschuldige Verwendung des Begriffs Marktwirtschaft verhindere erfolgreich die Thematisierung wirtschaftlicher Macht. Die Wahrheit vieler Volkswirte habe mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun. Das macht Galbraith deutlich.

Allerdings macht er es sich dabei keineswegs einfach. Hier geht es nicht um eine Verschwörung interessierter Kreise gegen das Gemeinwohl, sondern um den Zusammenhang von Interessen und Ideologie. Der „unschuldige Betrug“, auf den sich der Buchtitel bezieht, ergibt sich aus der ideologischen Vorherrschaft von Ökonomen, die aus ihren Analysen ökonomische, politische und gesellschaftliche Interessen systematisch ausblenden. Die gegenwärtige pure Interessenpolitik wäre ohne diesen ideologischen Überbau nicht durchsetzungsfähig.

Galbraith formuliert eine scharfe Kritik an den Irrtümern und Verschleierungspraktiken der herrschenden Ökonomie. Ja, er stellt deren Grundannahmen in Frage – so die These von der Konsumentensouveränität von „König Kunde“. Tatsächlich bestimmten die Konzerne mit ihrer Marketingmacht die Kaufentscheidungen des Konsumenten. Konzerne, die auch ansonsten mit dem Ideal des Unternehmers nur noch wenig zu tun hätten. In der Realität handele es sich um die Herrschaft des Managements über Kunden und Aktionäre. Galbraith drückt hier alte Überzeugungen neu aus. Mit der These von der Dominanz des Managements ist der Harvard-Ökonom berühmt geworden. Allerdings verkennt er dabei den Strukturwandel der letzten Jahrzehnte. Galbraith entwickelte seine These vor dem Hintergrund des alten Industriekapitalismus der 50er-Jahre.

Heute hat die Industrie ihre beherrschende Stellung an das neue Finanzkapital verloren. Die Debatte um Hedge Fonds und Private-Equity-Firmen drückt diesen Wandel aus. Der Markt hat im Vergleich zu früher an Bedeutung gewonnen. Für viele Industrieunternehmen bedeutet das verschärfte Konkurrenzbedingungen. Zugleich dominiert ein ungezügeltes Profitstreben. Die Rendite ist alles – und die Gesellschaft nichts, so Galbraith. „Die Möglichkeit zur Selbstbedienung des Managements ist skandalös und lässt sich nicht mit bloßer Fahrlässigkeit erklären. Sie ist auch nicht weiter erstaunlich in einem Wirtschaftssystem, in dem die Privilegierten ihr Einkommen nach eigenem Gutdünken festsetzen können. Dies ist kein schuldloser Betrug.“

Galbraith sieht das Kernproblem für die beschriebenen Missstände nicht in dem angeblichen Rückzug des Staates. Die Staatsfeindschaft der amerikanischen Rechten sei reine Ideologie. Tatsächlich hätten die Konzerne den Staat zu ihren Gunsten manipuliert. Er diagnostiziert für die USA eine weitgehende Verschmelzung zwischen wirtschaftlicher Macht und Staat. Eine These, die im Übrigen in den USA keineswegs nur von Linken vertreten wird. Galbraith vermag allerdings die Gründe für die kulturelle Hegemonie der Neokonservativen in der amerikanischen Politik nicht schlüssig zu erklären.

Die These vom „unschuldigen Betrug“ erweist sich hier als allzu unschuldig. Genauso wenig kann seine Kritik an der amerikanischen Geldpolitik überzeugen. Zwar ist es erfrischend, zur Abwechslung einmal Kritik an dem Chef der amerikanischen Zentralbank, Allan Greenspan, zu lesen. Auch ist seine Warnung vor einer Reduzierung der Wirtschaftspolitik auf Geldpolitik berechtigt. Niedrige Zinsen führen nicht immer zu einer konjunkturellen Belebung und können Verteilungsdebatten nicht ersetzen. Aber Greenspan ist im Vergleich zu seinen europäischen Kollegen eine Lichtgestalt.

Galbraith hat einen lesenswerten und gut lesbaren Essay geschrieben. Er macht deutlich, was eine Wirtschaftswissenschaft, die sich als Sozialwissenschaft versteht, leisten kann. In drei Jahren wird der Ökonom hundert Jahre alt, doch gegen ihn sehen die meisten seiner deutschen Kollegen alt aus. FRANK LÜBBERDING

John Kenneth Galbraith: „Die Ökonomie des unschuldigen Betruges. Vom Realitätsverlust der heutigen Wirtschaft“. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Siedler Verlag, Berlin 2005, 120 Seiten, 14 Euro