Kohls Date mit der Geschichte

JUBILÄUM Der Festakt für den Ex-Kanzler im Deutschen Historischen Museum gerät zu einer cleveren Mischung aus politischer Taktik und Heiligenverehrung. Helmut Kohl überrascht – mit einem Dank an jene, „die mich provoziert haben“

BERLIN taz | Wenn alles vorbei ist, wird Helmut Kohl an Lenin vorbeikommen. Eine überlebensgroße Statue des Revolutionärs steht im Foyer des Deutschen Historischen Museums. Dort, wo zum Abschluss der Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag von Kohls Amtsantritt als Bundeskanzler viele der 800 Gäste plaudern werden. Doch bis dahin haben die Redner dieses Abends noch zu tun. Sie erheben Kohl selbst zur überlebensgroßen Statue.

Es ist Donnerstagabend, die Luft ist spätsommerlich warm, über der Glaskuppel im Innenhof des Museums ist der Himmel blau. Kanzlerehrungswetter. Viele Politiker und noch mehr Expolitiker sind der Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung gefolgt, Helmut Kohl zu feiern. Die Veranstaltung ist der Kern der Feierlichkeiten rund um das 30. Jubiläum des 1. Oktober 1982. Es ist ein cleverer Zug der Kanzlerin, die so oft für ihre angebliche Konzeptlosigkeit in der Euroschuldenkrise gescholten wird. Kohl soll ihrer Politik seine Autorität verleihen. Wo ginge das besser als in einem Museum für deutsche Geschichte?

Bevor Merkel reden darf, grüßt die halbe Regierungselite der Welt persönlich oder in Videobotschaften. Den Inhalt fasst der luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker zusammen: „Über Helmut Kohl wurde schon vieles geschrieben. Und über Helmut Kohl wurde noch nicht alles oft genug gesagt.“ Dann darf Merkel ran.

Zu Beginn redet sie über etwas, das in Erzählungen über den „Kanzler der Einheit“ selten Erwähnung findet: Kohls Innenpolitik in den achtziger Jahren. Umweltpolitik, Steuer- und Pflegereform, Verringerung der Staatsschulden. Jeder soll einsehen: Sie, die Nüchterne, ist bis in die innenpolitischen Niederungen hinein Kohls Erbin. Zwischendurch wird eine 55-Cent-Briefmarke mit dem Konterfei des Exkanzlers vorgestellt. Eigentlich ist eine solche Ehrung Toten, Bundespräsidenten und dem deutschen Papst vorbehalten.

Dann schließlich, nach mehr als zwei Stunden, redet Kohl. Wächsernes Gesicht, der Körper vom Schädel-Hirn-Trauma gezeichnet. Nur die Augen zeigen, dass der Geist wach ist. Erstaunlich fest, wenn auch nuschlig, sagt Kohl in die Stille: „Europa darf nie wieder in den Krieg versinken.“ Mit solchen Worten haben die Anwesenden gerechnet, nicht aber mit seinem Dank an jene, „die mich provoziert haben, die mich herausgefordert haben“. Einer von denen sitzt in der ersten Reihe: Wolfgang Schäuble, der im Jahr 2000 mit Kohl gebrochen hat.

Mit Blick auf seine 16 Jahre im Kanzleramt sagt Kohl, sichtlich angestrengt: „Es war eine fantastische Zeit.“ Es sind allgemeine Worte, so vage, dass jeder ihnen zustimmen kann. Zugleich sind sie so emotional, dass Merkel sie künftig bei Bedarf in ihre Reden einbauen kann. „Mit einem Wort“, sagt Kohl am Schluss: „Lassen Sie uns die Zeit nutzen.“ Dann steht das Publikum auf, abgesehen von ausländischen Ehrengästen sind es fast nur Parteifreunde. Es applaudiert lange. Dann leert sich der Saal, und Kohl wird ins Foyer geschoben, wo Lenin auf ihn wartet.

MATTHIAS LOHRE

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