Es geht um die Wurst

Vegan zu essen war in den Neunzigern noch ein politisches Statement. Heute nehmen normale Supermärkte und Restaurants den Trend auf – was für kleine Läden zum Problem wird. Ein Streifzug durchs vegane Berlin

Jan Bredack eröffnete 2011 mit Veganz in Prenzlauer Berg die erste vollvegane Supermarktkette Europas Foto: Andreas Pein/laif

Von Jonas Wahmkow

Martin Pallasch sitzt in einem Kreuzberger Café, nippt kurz an seinem alkoholfreien Bier, dann wird er gleich grundsätzlich: „Es geht darum, Gewalt und Ausbeutung zu verhindern. Das gilt auch gegenüber Tieren, die ebenfalls fühlen und leiden.“ Der 47-jährige Pflegehelfer lebt seit 24 Jahren vegan, fast genauso lange ist er in der Tierrechtsbewegung aktiv. Pallasch ist, wenn man so will, einer der veganen Pioniere in Deutschland.

1997 gründete er die Berliner Tierbefreiungsaktion (BerTA) mit, eine anarchistische Gruppe, die sich seitdem vor allem mit Protestaktionen gegen Tierhaltung und Pelzhandel engagiert. Veganismus ist für ihn kein Lifestyle, sondern eine politische Lebenseinstellung.

Pallasch ist unauffällig gekleidet, Jeans, ein einfaches Shirt, und genauso redet er auch, unaufgeregt und nicht belehrend. „Gerade in einer Wohlstandsgesellschaft wie unserer“, erklärt er, „ist man überhaupt nicht darauf angewiesen, Fleisch zu essen.“ Eine vegane Lebensweise ist für ihn daher logische Konsequenz des Bedürfnisses nach einer ethischen Lebensweise, die möglichst wenig auf der Ausbeutung von Mensch, Tier und Umwelt beruht.

Diesen Grundsatz setzt er auch in anderen Bereichen um, er kauft möglichst wenig ein und wenn, dann eben nur fair gehandelte Kleidung. „Wichtig ist, wie konsumiere ich?“, fasst er es zusammen.

Veganer*innen wie Pallasch waren in der Mitte der neunziger Jahre meist auch in anderen Kontexten politisch aktiv. „Wenn wir auf einer Pelzdemo waren, hast du nächste Woche komplett die selben Leute auf einer Antifa-Demo gesehen“, erzählt er. Veganismus verankerte sich mit der Tierrechtsbewegung fest in der linken Szene. „Es gab kaum ein linkes Hausprojekt, wo man keine vegane VoKü bekommen hat“ erinnert sich Pallasch an das „Volxküche“ genannte Gruppenkochen auf Spendenbasis, was es heute noch regelmäßig in Szenekneipen und Hausprojekten gibt.

Von Verhältnissen wie im heutigen Kreuzberg, wo man fast überall auch Sojamilch in den Kaffee bekommen kann, konnte Pallasch in den 90ern nur träumen: „Ich wurde damals teilweise angeguckt und gefragt, ‚Vegan? Was ist das?‘“. Gerade spezielle Produkte wie vegane Reinigungsmittel, musste er noch in Katalogen bestellen. Nicht wenige Aktivist*innen gründeten aus dieser Not heraus erste Läden und Imbisse, die den Grundstein für die vegane Infrastruktur in Berlin bildeten. Vorreiter wie der 2011 geschlossene Vegan-Laden „Veni, Vedi, Vegi“ in der Pücklerstraße, betonten explizit ihren politischen Anspruch. „Wichtig für uns bleibt die Verbindung von Politik und Ernährung“, heißt es auf der Website, die immer noch online ist.

Zahlen Knapp 1 Million Menschen leben in Deutschland laut Marktforschungsinstitut Allensbach vegan, das sind etwas mehr als 1 Prozent der Bevölkerung. Etwa 6 Millionen ernähren sich vegetarisch, Tendenz seit Jahren steigend. Statistische Erhebungen über die Zahl der Veganer in Berlin gibt es keine, doch wird geschätzt, dass der Anteil deutlich höher ist als im Bundesdurchschnitt, weil diese Ernährungsweise besonders in urbanen Räumen verbreitet ist.

Fleischkonsum Rund 60 Kilogramm Fleisch isst der Deutsche durchschnittlich im Jahr. Das ist nur ein Kilo weniger als noch im Jahr 2000. Bundesweit gesehen hat der Vegan-Boom keinen großen Einfluss auf den Fleischkonsum.

Angebot 83 rein vegane Restaurants, Cafés, Imbisse und Bars listet die Website berlin-vegan.de auf. Dazu kommen 72 vegane Läden, die Lebensmittel, Kosmetik, Schuhe und Kleidung verkaufen. Zudem gibt es den veganen Markt The Green Market, der das nächste Mal am 24. und 25. November ab 12 Uhr stattfindet, Alte Münze, Molkenmarkt 2, 10179 Berlin. Eintritt 4 Euro, bis 12 Jahre frei

Heute, so scheint es, als sei vegane Ernährung längst im Mainstream angekommen. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass sich der Hype um tierfreie Ernährung vor allem in Friedrichshain, Kreuzberg und Prenzlauer Berg zeigt. In den letzten fünf Jahren schossen in den Szenebezirken vegane Imbisse und Restaurants wie Pilze aus dem Boden, zeitweise galt Berlin als „vegane Hauptstadt Europas“.

Wer in Friedrichshain über die Warschauer Straße schlendert, kann einen veganen Schuhladen finden, einen neueröffneten Second-Hand-Vintage-Store, und es dauert es nicht lange, bis man am ersten schick eingerichteten, rein veganen Bistro vorbeiläuft. Der Burgerladen gegenüber wirbt wie selbstverständlich mit seiner fleischfreien Variante und selbst die Currywurstbude, bisher sicheres Refugium gegen alle Ernährungstrends, hat hier eine Tofuwurst im Angebot.

Viele der veganen Cafés, Imbisse und Restaurants, die im Zuge des Vegan-Booms kamen, haben selten noch den hohen politischen Anspruch von früher. Vegane Starköche wie der Berliner Attila Hildmann mit seiner „Vegan for Fit“-Reihe, trugen maßgeblich dazu bei, aus dem Veganismus einen hippen Ernährungstrend zu machen. Es erschienen unzählige vegane Kochbücher, im Jahr 2012 waren es noch 23, vier Jahre später schon 211 Neuerscheinungen. „Das ist ein Lebensgefühl, was die Leute anspricht, das hat aber wenig politischen Anspruch“, sagt Pallsch, der diese Entwicklung kritisch beäugt, „bei dieser Art Pop-Veganismus stellt sich die Frage: Wie lange bleiben die Leute dabei?“

Daran, dass sich der Veganismus in Berlin aus einer radikal-aktivistischen Ecke endgültig zu einem medial bejubelten Ernährungslifestyle entwickelte, ist auch Jan Bredack nicht ganz unschuldig. 2011 eröffnete er mit „Veganz“ im Prenzlauer Berg die erste voll-vegane Supermarktkette Europas. Wie Martin Pallasch ist Bredack aus Mitgefühl zu Tieren vegan geworden.

Sonst haben die beiden nicht so viel gemeinsam. Statt von Tierpelz-Demos erzählt der enthusiastische Unternehmer von Marktpotentialen und Wachstumsraten für Fleischersatzprodukte. Bredack war früher Top-Manager bei Daimler, nach einem Burn-out 2008 folgte eine radikale Lebensumstellung, er kündigte seinen Job und er stieg auf eine rein pflanzliche Ernährung um. Aus der Schwierigkeit heraus, kaum vegane Lebensmittel kaufen zu können, kam ihm die Geschäftsidee zu Veganz. Bredack ist Idealist geworden, aber Unternehmer geblieben.

Bredack hat bewusst Berlin als Startpunkt für seine Supermarktkette gewählt. „Hier gibt es von Grund aus ein ökologisches Bewusstsein, eine international geprägte Gesellschaft, sehr viele junge Leute und Studenten“, listet er die Faktoren auf, die zum Vegan-Hoch beigetragen haben, „der perfekte Nährboden für das, was wir tun.“ Und Bredack tut eine Menge, vor allem aber entwickelt und vertreibt sein Unternehmen vegane Produkte, die so aussehen und in etwa so schmecken wie ihre tierischen Counterparts, aber komplett pflanzlich sind.

„Anfangs wurde ich teilweise angeguckt und gefragt: Vegan? Was ist das?“

Martin Pallasch, Tierrechtsaktivist

In den Veganz-Märkten lässt sich für fast jedes tierische Produkt ein veganer Ersatz finden: Shrimps, Leberwurst, Fischstäbchen, Wurst, Käse – meistens hergestellt aus Soja oder Weizenproteinen. Schaut man sich ein wenig in der Friedrichshainer Filiale um, wird einem nach kurzer Zeit klar: Nicht die etablierten Veganer werden hier angesprochen, sondern die, die es vielleicht gerne sein wollen.

Verheißungsvoll steht „Imagine all the vegans“ auf einem Schild über der Kasse – Stell dir alle Veganer vor. Ein bisschen Vorstellungskraft braucht man an diesem Dienstagmittag tatsächlich, es tummeln sich nur wenige Kunden im Laden. Der Kassierer nutzt die Zeit um Waren einzuräumen, er schiebt Thunfisch-Steaks aus Weizeneiweiß und vegane Tiefkühlpizzen hin und her.

Die Euphorie hat sich offenbar etwas gelegt. Veganz hat seine Ambitionen inzwischen runtergeschraubt und musste einen Großteil der Filialen wieder schließen. Auch die ersten veganen Restaurants schließen wieder, so wie das 2015 im Prenzlauer Berg eröffnete Rawtastic. Hier wurden nur vegane Speisen angeboten, die bis maximal 42 Grad erhitzt wurden, was als besonders gesund angepriesen wurde. Im August diesen Jahres schloss das hippe Restaurant seine Pforten.

Ist das nun schon das Ende des Hypes? Oder nur eine kleine Verschnaufpause auf dem unausweichlichen Weg hin zur veganen Ernährung für alle?

„Unsere allerwenigsten Kunden leben komplett vegan“, formuliert es Bredack, „die Gruppe wäre auch viel zu klein, um mit so einem Unternehmen Gewinn zu machen.“ Derzeit gibt es laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Allensbach knapp eine Million Veganer*innen in Deutschland. Obwohl die Zahl seit Jahren leicht steigt „ist Deutschland in der Hinsicht in Europa eher Schlusslicht“, so Bredack. Marktrelevant sind dagegen die sogenannten Flexitarier, die gelegentlich auf Fleisch verzichten wollen. Ihnen soll es möglichst einfach gemacht werden, ihren Fleischkonsum zu reduzieren, ohne dabei ihre Essgewohnheiten ändern zu müssen.

„Unsere allerwenigsten Kunden leben komplett vegan“

Jan Bredack, Gründer der Supermarktkette Veganz

Für Flexitarier*innen ist vegan keine politische Lebensphilosophie, der sie konsequent folgen, sondern neben Bio und Fairtrade ein weiteres Qualitätsmerkmal von Produkten, auf das sie beim Einkauf achten.

Eine Entwicklung, die auch Natalia Kolodzirjska bestätigen kann. Sie ist Mitglied des Vegan-Laden-Kollektivs „Dr. Pogo“ in Neukölln. Längst kaufen hier nicht nur linke Veganer*innen ein, sondern Leute aus dem Kiez, die vor allem qualitative Lebensmittel wollen. „Es kommt ein deutlich breiteres Publikum als noch vor 5 Jahren“, so Kolodzirjska. Dass sich das kleine Ladenkollektiv gegen die Konkurrenz der Biosupermarktketten behaupten kann, liegt auch daran, dass es in Sachen bewusster Konsum immer ein paar Schritte voraus ist. So gibt es in dem Laden aus Kleinbetrieben hergestellten Tofu, dessen Soja ökologisch in Deutschland angebaut wird. „Wir beziehen vor allem Produkte von kleineren Betrieben und achten auf transparente Lieferketten“, erklärt Kolodzirjska.

Glaubt man den Marktforschern, sind die Konsument*innen, die in Läden wie Veganz oder Dr. Pogo einkaufen, eher jung, gebildet und gut verdienend. Sie achten sehr genau darauf, woher die Produkte stammen und was darin enthalten ist. In diesem Sinne unterscheiden sich Flexitarier*innen gar nicht so stark von Veganer*innen der ersten Stunde wie Martin Pallasch, sie sind halt nur weniger konsequent.

Diese Tatsache haben auch fast alle großen Supermarktketten für sich erkannt, selbst Discounter führen in ihren Berliner Märkten neben zahlreichen Bio- und Fairtradeprodukten ein großes veganes Sortiment: „Im Zuge des Vegan-Trends vor etwa zwei Jahren haben viele Edeka-Märkte das Angebot an veganen Lebensmitteln ausgeweitet“, beschreibt Pressesprecherin Miriam Pöttkeres die Strategie des Einzelhändlers.

In den Veganz-Märkten lässt sich für fast jedes tierische Produkt ein veganer Ersatz finden: Käse, Shrimps, Fischstäbchen oder auch Wurst Foto: Henning Bode/laif

Die daraus resultierende Allgegenwärtigkeit von veganen Produkten führte nicht zuletzt dazu, das Bredack seinen Traum von einer europaweiten, veganen Supermarktkette aufgeben musste: „Wegen einer Sojamilch kommt keiner mehr in unseren Laden, die gibt’s in jedem Aldi.“ Von den zeitweise neun Veganzfilialen sind mittlerweile nur noch drei in Berlin geöffnet. Stattdessen fokussiert sich Bredack nun darauf, neue Produkte zu entwickeln und Ketten wie Rewe und Edeka direkt mit veganen Produkten zu beliefern.

Eine ähnliche Entwicklung ist auch in der Gastronomie zu beobachten. Gab es 2015, auf der Höhe des Vegan-Booms, noch 36 rein vegane Restaurants in Berlin, gibt es derzeit nur noch 28. Immer mehr normale Restaurants erweiterten ihre Speisekarte mit veganen Angeboten. Gerade die Konkurrenz großer Ketten wie Vapiano oder Peter Pane sorgten dafür, dass viele rein vegane Restaurants wieder schließen mussten, glaubt Bredack, „die haben das abgegriffen“.

Unbestreitbar ist dennoch, dass die Idee des veganen Lebens immer weiter in den Mainstream vordringt. Sogar Kantinen großer Konzerne beginnen langsam, sich an die tierfreie Ernährungsweise anzupassen. So will die Deutsche Bahn, einer der größten Arbeitgeber der Stadt, in ihren Kantinen zukünftig mehr Auswahl anbieten. „Die DB Gastronomie ist gerade dabei, den Bereich rund um gesundheitsbewusste Ernährung, wozu auch vegane Gerichte zählen, weiter auszubauen“, heißt es auf Anfrage der taz. Die größeren Mensen des Studierendenwerks haben bereits standardmäßig ein veganes Gericht im Angebot, mit der Veggie Mensa an der Freien Universität gibt es seit 2010 eine rein vegetarische Mensa, die auch ein veganes Angebot pflegt.

Vegansein als politische Lebenseinstellung: Tierrechtsaktivist Martin Pallasch im Kreuzberger Café Kiez Vegan Foto: Wolfgang Borrs

Zudem steigt auch das gesellschaftliche Bewusstsein für tierische Inhaltsstoffe außerhalb von Nahrungsmitteln. Dies zeigt sich nicht nur in veganen Schuh- und Kleiderläden, sondern auch in Geschäftsbereichen, die viele nicht auf den ersten Blick nicht mit Veganismus in Verbindung bringen. Der 2011 gegründete vegane Sexshop Other Nature ist ein gutes Beispiel dafür. Der Laden am Mehringdamm will zugleich feministisch, queer, sex-positiv, umweltfreundlich und vegan sein. Innen ist hell und gemütlich eingerichtet, kein Vergleich mit der Schmuddeligkeit klassischer Sexshops.

Die Peitschen hier sind nicht aus Leder, sondern aus up-gecycelten Fahrradschläuchen, die Kondome fair und ohne Milchprotein produziert. Das bedeutet auch, manchmal Kompromisse einzugehen. So konnten eine Zeit lang keine Massagekerzen angeboten werden, da viele Anbieter nur welche aus Palmöl oder Bienenwachs anbieten, was beides nicht mit den Prinzipien des Ladens vereinbar ist. Mittlerweile haben die Betreiber*innen aber ein ethische Alternative gefunden.

„Wir wollen keine Dinge verkaufen, die schädlich für andere sind“, erklärt Other-Nature-Mitarbeiterin Kitty May. Feminismus und Veganismus passen für sie gut zusammen: „Bei beiden spielt das Konzept, niemanden auszubeuten, eine wichtige Rolle.“

Auch wenn die Hysterie um Chia-Bowls und Rohkosternährung langsam abflaut, diese Art kritischer Konsumkultur, die immer mehr Bereiche miteinbezieht, bleibt. Und wird das vegane Berlin in Zukunft weiter prägen. Veganz-Gründer Bredack ist sich sicher: „In den nächsten drei bis fünf Jahren wird vegane Ernährung in Berlin völlig normal sein, da wird es eher anrüchig sein, tierische Produkte zu essen.“