Clash von Utopie und Pessimismus

AFFAIREN Am Freitag startet „Foreign Affairs“, ein neues Festival der Berliner Festspiele. Ein Gespräch mit der Leiterin Frie Leysen über Hausbesuche, rechte Proteste, den kolonialen Blick und japanische Aktivisten

■ geboren in Belgien, studierte Kunstgeschichte. In Antwerpen baute sie ab 1980 das internationale Kunstencentrum auf, und 1992 gründete sie in Brüssel das interdisziplinäre Kunstenfestival. 2010 leitete sie „Theater der Welt“ im Ruhrgebiet, für 2014 ist sie als Schauspieldirektorin der Festwochen Wien berufen.

■ Foreign Affairs (28. 9. bis 26. 10.) findet dieses Jahr zum ersten Mal statt, kuratiert von Frie Leysen. Ab nächstem Jahr wird es von Matthias von Hartz geleitet. Das Programm ist auf www.berlinerfestspiele.de zu sehen.

INTERVIEW KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Frie Leysen, man kann Sie zu Hausbesuchen einladen. Warum?

Frie Leysen: Das Festival Foreign Affairs präsentiert viele Künstler, die hier unbekannt sind; wenn ich die einlade, muss ich auch sagen können, warum ich diese Künstler wichtig finde, und das tue ich bei den Hausbesuchen.

Ein roter Faden im Programm von Foreign Affairs ist das Thema Kolonialismus. Gibt es da heute, 2012, einen besonderen Grund dafür?

Ich habe das Gefühl, das ist immer ein Thema. Ausgangspunkt war für mich die unglaublich wichtige Arbeit von Brett Bailey aus Südafrika. Wie er über Kolonialismus spricht, nicht als Opfer, nicht larmoyant, dennoch entschieden, das hat mich überzeugt. Hinzu kam die Auseinandersetzung über das Blackfacing in den Berliner Theatern. Dann hörte ich, dass Markus Öhrn/Institutet/Nya Rampen an einer Geschichte arbeiten – „We love Africa and Africa loves us“, über den Kolonialismus aus westlicher Sicht – und Brett spricht natürlich ausdrücklich aus afrikanischer Sicht. Auch andcompany&Co bereitet eine Produktion vor, „Black Bismarck“. Ich fand interessant zu sehen, wie man aus Europa, aus Berlin, aus Afrika auf die Geschichte guckt, und das nebeneinander zu zeigen.

2010, als Sie Theater der Welt im Ruhrgebiet leiteten, haben Sie es als Notwendigkeit formuliert, uns hier in Westeuropa den kolonial gefärbten Blick auszutreiben. Glauben Sie, dass wir diesen Blick immer noch haben?

Absolut. 2007 habe ich in neun Städten im arabischen Raum – in Damaskus, Amman, Ramallah, Kairo, Tunis und anderen – ein Festival organisiert, da habe ich viel gelernt. Bis dahin dachte ich, ich arbeite international, ich bin interessiert an den Künstlern aus unterschiedlichen Regionen der Welt – aber das war das erste Mal, dass mein Publikum nicht westlich war. Da habe ich realisiert, wie wir alles noch durch eine westliche Brille sehen. Wir glauben noch immer, das Monopol zu haben auf moralische Werte, Demokratie und Kultur. Ob ich im arabischen Raum oder in Asien arbeite – alle Kriterien, alle Modelle, alle Standards sind immer westlich. Seitdem suche ich einen Perspektivwechsel.

Was wird denn durch die westliche Brille nicht wahrgenommen?

Ich sehe ein großes Problem darin, dass für uns nur existiert, was wir intellektuell und emotional verstehen, und was wir nicht begreifen, das existiert auch nicht für uns. Auf einem Festival möchte ich das Publikum auch mit Dingen konfrontieren, die wir nicht alle begreifen – aber man fühlt doch, dass sie eine unglaubliche Kraft haben.

Sie sind vor kurzem als Direktorin für das Schauspiel der Wiener Festwochen benannt worden, ab 2014. Der Regisseur Alvis Hermanis warf Ihnen auf diese Meldung hin vor, Obsessionen für „Multikulti aus exotischen Ländern“ zu hegen, und meinte, dass ihn das an ideologische Positionen aus der Zeit der Sowjetunion erinnerte. Hat Sie das getroffen?

Ja, das ist schrecklich. Aber ich möchte nicht darauf reagieren.

Gibt es eine Vorgeschichte zwischen Ihnen und Alvis Hermanis?

Er hat auf meinem „Multikulti-Festival“ in Brüssel gerne gespielt. Ich verstehe nicht, woher das jetzt kommt. Warum er jetzt so dogmatisch wird. Formen von Theater auszugrenzen, das ist nicht okay.

Bei der Vorstellung des Festivals sagten Sie, dass es viele Gespräche mit den Künstlern geben wird und Dokumentarfilme über Ihre Arbeit. Das erzeugt bei mir einen Vorbehalt – sind denn die Arbeiten ohne zusätzliche Informationen zu schwer zu verstehen?

Nein, nein, nein. Aber mir geht es so, wenn ich eine Arbeit sehe, werde ich neugierig, wie sieht die Frau oder der Mann aus, der das gemacht hat, wie sprechen die, was denken die, ich will ihnen begegnen. Und das will ich auch dem Publikum ermöglichen. Just to get to know each other.

Das Programm umfasst auch Stücke, die von der Sehnsucht nach Veränderung getragen werden, hinter denen soziale Bewegungen als Motor stehen.

Was mich echt getroffen hat bei der Recherche, war, dass in einer Periode des Pessimismus und Zynismus jetzt Künstler kommen, die von Utopien oder dem Glauben in etwas erzählen wollen. Das gilt für Fabian Hinrichs, der sich auf der Bühne die Fragen, die er sich als 14-Jähriger gestellt hat, nun als 40-Jähriger noch mal vorlegt. Ich finde das schön, wie er mit seiner Sturm-und-Drang-Phase und späterer Enttäuschung umgeht – ohne Angst, naiv zu erscheinen. Ein Utopist ist auch Kyohei Sakaguchi, Architekt und Schrifststeller, der Zero-Yen-Houses in Japan baut.

Was ist ein Zero-Yen-House?

Das sind Häuser aus Müll, gebaut ohne Yen, ohne Geld. Kyohei Sakaguchi ist ein Aktivist, der sich mit ziemlich grundsätzlichen Fragen beschäftigt. Warum hat man nicht ein Recht zu wohnen, wenn man arm ist, zum Beispiel. Er begann, die Zero-Yen-Houses zu bauen, und konstatierte dann, ja, ich kann die Häuser nirgendwo hinstellen, ohne Land. Dann hat er sich entschieden, mobile Häuser zu bauen, auf Rollen …

Unterscheidet sich das von Wohnwagen?

Er transportiert damit Fragen: Muss man Land haben, um irgendwo wohnen zu können? Nach der Katastrophe von Fukushima hat er als erster Künstler dafür gesorgt, dass Kinder aus Fukushima, aus der verstrahlten Zone, herauskamen, zu ihm, nach Kumamoto. Dann hat er festgestellt, die Regierung lügt, wenn sie sagt, es gibt keine Gefahr, wir haben das unter Kontrolle. Einer Regierung, die lügt, sagte er, das geht nicht, ich bilde jetzt meine eigene Regierung. Die nannte er „New Government“ und hat ein Buch darüber geschrieben, das ist vor einem Monat rausgekommen.

Wird sein Buch gelesen in Japan?

Es ist ein großer Erfolg. Japan ist eine pyramidal geordnete Gesellschaft, jeder akzeptiert seinen Platz in der Pyramide. Das Buch „New Government“ erzeugt ein politisches Erwachen, es wird viel diskutiert, vielleicht dürfen wir doch nicht alles glauben, was man uns erzählt. Daisuke Miura, ein Theatermacher aus Japan, hat einen ganz anderen Blick. Er spricht von einer Gesellschaft, die am Ende ist, am Ende des Konsumismus. Eine Gesellschaft, die alles hat, wo man alles kaufen kann, was bleibt der? Leere, kein Glaube, keine Liebe, keine Kontakte.

Auf einem Festival möchte ich mit Dingen konfrontieren, die wir nicht alle begreifen

Er kritisiert also, dass die Werte fehlen, nicht, dass durch den Konsum die Umwelt mehr und mehr kaputtgeht?

Das macht Kyohei Sakaguchi, aber Daisuke Miura sagt, die Leute gehen kaputt. Die Seele ist weg. Ich finde wichtig, dass man auf einem Festival unterschiedliche Perspektiven auf die Gesellschaft zu sehen bekommt, die nicht konsensuell sind, sondern gegeneinander clashen, utopisch und pessimistisch. Aber beide hinterfragen, was ist.

Zwei Künstler sind eingeladen, Romeo Castellucci und Rodrigo Garcia, die für ihre letzten Produktionen von katholischen Gruppen angegriffen wurden, besonders in Frankreich. Waren die Protestierenden eher religiöse Splittergruppen, oder sind das bedrohliche Anzeichen einer wachsenden Intoleranz?

Ich habe die Proteste in Frankreich erlebt, das waren extreme Rechte. Das waren nicht Gläubige in erster Linie, das waren Rednecks. Was Rodrigo und Romeo machen, das handelt von der Verzweiflung – wo kann denn Gott sein, wenn so viel Furchtbares in der Welt geschieht? Rodrigo Garcia erzählt, wie die Leute mit ihren Kindern ins Museum gehen und die christliche Ikonografie sehen, Mord, Krieg, Kreuzigung – und dann reden wir über den lieben Gott?

Denken Sie, dass die Extremisten eine Minderheit bleiben werden?

Das ist die Frage. Und die hängt auch davon ab, wie die Medien damit umgehen. In Frankreich sind die Medien so da draufgesprungen, das gibt den Protestierern zu viel Aufmerksamkeit. Das ist gefährlich.

Sie gehen mit einigen Produktionen auch nach Mitte und Prenzlauer Berg, zu den Sophiensælen, dem Ballhaus Ost und in den kleinen Wasserspeicher. Wie haben Sie das Ballhaus Ost kennengelernt?

Dort spielen Markus Öhrn/Institutet/Nya Rampen, und die haben auch bisher dort gearbeitet. Das wollten wir dem Ballhaus Ost nicht wegklauen. Ich finde es wichtig, diesen kleinen Spielorten, die für die Künstler so wichtig sind, durch das Festival Anerkennung zu verleihen.