Jugend ohne Anwalt

SZENE Ausgezeichnet, aber pleite, rettet sich das Archiv der Jugendkulturen mit dem Verkauf seines Verlags

BERLIN taz | Klaus Farin sitzt auf einem Goldschatz. Trotzdem kämpft der Jugendforscher aus Berlin seit Jahren gegen den finanziellen Ruin. Sein 1998 gegründetes „Archiv der Jugendkulturen“ umfasst eine weltweit einzigartige Sammlung authentischer Szenezeugnisse, vom ersten Techno-Flyer bis zur Antifa-Zeitung.

Der auf 200 Quadratmetern Präsenzbibliothek geordnete Materialwust aus 8.000 Büchern und Broschüren, 32.000 Fanzines, Zeitschriften, Zeitungen, Flyern, 600 Magister- und Diplomarbeiten sowie 84.000 CDs, LPs, MCs, DVDs und Videos dient Farin und einer Handvoll Mitarbeiter zur wissenschaftlichen Erforschung von Adoleszenzphänomenen. Ob Skater, Emos, Junghexen: mit ihrem Detailwissen über jede noch so obskure Jugendkultur haben sich die Jugendforscher ein Renommee bei Wissenschaftlern, Politikern und Publizisten erarbeitet.

Ausstellungen wie zu „50 Jahre BRAVO“, Workshops und die wissenschaftliche Publikationsreihe leisten unverzichtbare Aufklärungsarbeit. Im Gegensatz zu vielen selbst ernannten Jugendexperten wissen die oftmals selbst szenenahen Archivmitarbeiter, wovon sie reden, wenn es um Ballerspiele oder die Gefährlichkeit von Gangster-Rap geht.

Obwohl vielfach ausgezeichnet, wurde das Archiv nie regelmäßig öffentlich gefördert. Für den Wissenschaftsbetrieb zu eigensinnig, für die Politik nicht relevant genug – so hielt man sich jahrelang mit Projektgeldern, Praktikanten und ehrenamtlicher Arbeit über Wasser. Als 2010 die Miete nicht mehr bezahlt werden konnte, sammelte Farin Spenden und gründete die Stiftung „Respekt“.

Doch auch die brachte dem Archiv nicht den finanziellen Frieden: 103.000 Euro Stammkapital genügen nicht, um von den Zinsen die Arbeit zu finanzieren. Weiterhin lebt das Archiv prekär: 25 von 31 Mitarbeitern arbeiten ehrenamtlich, eine langfristige Planung ist unmöglich.

Dazu kam ab 2010 der Umsatzeinbruch im Buchhandel, der den hauseigenen Verlag an den Rand des Konkurses bringt. Dies und das Problem der Mietzahlung für das wachsende Archiv hat den Kulturrat veranlasst, das Archiv der Jugendkulturen als „gefährdet“ einzustufen.

Zur Zukunftssicherung hat sich Archiv-Gründer Farin nun überlegt, den Verlag zu verkaufen – aber nicht an irgendwen. Freunde des Projekts sollen als Kommanditisten in die Verlags-KG einsteigen und Anteile für 5.000 Euro kaufen.

Der eigentliche Zweck des Verlagsverkaufs ist, langfristig das Archiv zu retten, wie Verlagsleiter Farin sagt. Finden sich zu wenige Kaufinteressenten, droht dem Verlag das Aus. Und längerfristig dem Archiv, denn das Archiv lebt vom Verlag. Im worst case würde den empfindlichen Jugendkulturen, die zwischen einer jugendhungrigen Industrie und einer skeptischen Öffentlichkeit wachsen, ein Anwalt genommen. NINA APIN