Wenn der Kunst-Diktator blechtrommelt

Jonathan Meese bespielt in den kommenden Monaten vier Lübecker Kunsthäuser. In St. Petri ist eine Flut an typischen Meese-Objekten vom Plastik-Skelett bis zum Wagner-Porträt zu sehen. Aber im Grass-Haus wird der Maler Meese mal wohlgesittet auf den Punkt gebracht

Erst mal Gekreische und Medienrummel: Jonathan Meese darf das beschauliche Lübeck aufmischen Foto: Markus Scholz/dpa

Von Frank Keil

Erst einmal haben sie gekreischt. Zwei Minuten lang, vor Freude und vor Glück. Eng umschlungen hielten sie sich in den Armen, holten wieder Luft, zufrieden und glücklich: Jonathan Meese und Bernd Schwarze, Pastor der Lübecker Kulturkirche St. Petri. Zwei Männer, die vordergründig unterschiedlicher kaum sein könnten: der Künstler in gewohnt schwarzem Dress, das lange, etwas wirre Haar und der lange, etwas wirre Bart mittlerweile je ein wenig ergraut; der Gottesmann hochgewachsen und schlank, braungebrannt, eloquent und das Haar korrekt geschnitten. Und die doch eines eint: die Liebe zur Kunst.

Und drum herum: ein Wirrwarr aus Plastiken, Skulpturen und Malerei, aus Collagen, Transparenten und Wandmalereien; ein Durcheinander aus bekleideten Plastikskeletten und bemalten Schaufensterpuppen. Es ist, als habe man mit einem Kipplader möglichst viel an Material aus Meeses Atelierhallen aufgeklaubt, um es nun in einem Rutsch in der Kirche ohne Gemeinde abzuladen; als sei eine Meese-Bombe explodiert und nun senkt sich langsam der Meese-Staub.

Dass Jonathan Meese, dem gerade in der Münchner Pinakothek der Moderne eine große Einzelausstellung gewidmet ist, das beschauliche Lübeck bis in den Sommer aufmischen darf, verdankt sich dem nicht gerade guten Ruf, den zeitgenössische Kunst in der Hansestadt genießt. Also kamen die fünf Kunsthäuser am Platz auf die Idee, den Künstler einzuladen, jeweils ihr Haus zu bespielen. Ihr verlockendes Angebot: Meese hat jeweils freie Hand, was er wie zeigt.

„Es muss möglich sein, das, was man hier sieht, superlustig oder total scheiße zu finden“

Bernd Schwarze, Pastor der Lübecker Kulturkirche St. Petri

Den Anfang machen nun St. Petri und das Günter-Grass-Haus; es folgen Ende März Ausstellungen in der Kunsthalle St. Annen sowie in der Overbeck-Gesellschaft. Dazu kommt noch eine Performance-Aktion in der Kulturwerft Gollan außerhalb der Insel-Innenstadt von Lübeck später im Mai. Die Ausstellungen hat Meese jeweils nach einem Familienmitglied benannt.

Auch wenn die einladenden Akteure nicht müde werden, sich gegen Jonathan Meeses Image als Skandalkünstler zu wehren – ein gewisser Eklat dürfte durchaus einkalkuliert sein. Auf der Leserbriefseite der Lübecker Nachrichten zum ersten Ausstellungswochenende war denn auch von „Schade um das Geld“ bis zu einer „z.Z. entwürdigten Kirche“ vieles zu lesen, was den Bürger offenbar auf die Palme bringt, wenn die Kunst antritt. Jonathan Meese spaltet – und das ist gut, weil gewollt so.

Dabei hält sich Meese – der Profi – gerade in St. Petri selbstverständlich an die Spielregeln. Nichts, was man als pornografisch oder blasphemisch deuten könnte, ist zu entdecken. Meese nutzt vielmehr den grundsätzlich sakralen Raum, alles an Fläche wird bespielt und benutzt, wird beklebt, beschriftet und bemalt – ohne dass er in eine offene Konfrontation tritt. Warum auch – denn Meese ist ein durch und durch religiöser Künstler, nur dass er (derzeit) die Seligkeit und das Heil nicht von Gott, sondern von der Kunst erwartet; sich also sicher ist, dass das Kunst-Paradies kommen wird.

In der Kulturkirche St. Petri dominiert der Meese, den man kennt: Hier kann und darf man sich aufregen Foto: Markus Scholz/dpa

„Ich bin überhaupt kein Atheist, das ist mir schon viel zu ideologisch“, sagt Meese. Und: „Ich bin eher ein Tierbaby, das kennt Religion gar nicht.“ So gesehen muss niemand erschrecken, wenn er durch das Portal tritt und sich der Flut an Meese-Objekten aussetzt: dem Ketchup-Mann, dem Richard-Wagner-Porträt, mit den einen ganzen Tisch füllenden „Geisterjäger John Sinclair“-Heften. Wer mag, kann an diesem respektfreien Durcheinander seinen hellen Spaß haben, man kann aber auch vor sich hin flüstern: „Herrje, was für ein heilloses Durcheinander.“ Oder wie es Pastor Schwarze etwas unpastoral ausdrückt: „Es muss möglich sein, das, was man hier sieht, superlustig oder total scheiße zu finden.“

Und dann geht man die Lübecker Fußgängerzone weiter stadteinwärts ins Günter-Grass-Haus. Und ist überrascht, beinahe perplex, wie gesittet und wohlgeordnet Jonathan Meeses Werk hier im zweiten Set des „Gesamtkunstwerks Lübeck“ präsentiert wird – und wirkt: Gedämpftes Licht beruhigt die Gemüter, eine bestens austaxierte Hängung seiner Malerei, von Druckgrafiken und Lithografien überzeugt. Dazu gesellen sich sorgsam drapierte Vitrinen und eine Filmprojektion – Meese wird hier mal auf den Punkt gebracht; und das heißt, man lernt hier den Künstler zunächst mal als soliden Handwerker kennen und als einen überzeugenden Maler schätzen – weitgehend frei von der üblichen Aufregung. Meese dosiert, sozusagen.

Zusätzlich gestützt wird diese Ausstellung durch jede Menge biografischer Exponate: Skizzenbücher aus seiner Akademiezeit, erste Entwürfe zu ersten Arbeiten, aber auch sehr frühe und kindlich anrührende Briefe aus seiner Schulzeit an seine Mutter sind zu lesen wie zu betrachten. Sie bilden einen Kontrast zu der dominanten Medienperson, zu der sich Jonathan Meese auch aufgebaut hat und der er nur noch begrenzt entkommt. Wer mag, kann auch ein bisschen psychologisieren und einen Faden spinnen vom damals verschüchterten Schüler zum heutigen Kunst-Berserker, der so unerschrocken sagt: „Ich möchte immer nach Hause, zu Mami!“

Im Günter-Grass-Haus ist Meese ganz klassisch als Maler zu erleben: gesittet und wohlgeordnet Foto: Photography Jan Bauer.Net / Courtesy Jonathan Meese.Com

In diesem Sinne funktionieren die beiden ersten Meese-Stationen bestens nach dem Prinzip „Good Guy/Bad Guy“: In St. Petri kann und soll man sich aufregen, den Kopf schütteln oder in naiver Fan-Pose verfangen lautstark seine eigenen Zweifel wegapplaudieren. Im Grass-Haus dagegen kommt man zum Schauen und dann zum Nachdenken.

Klar – ein bisschen Getöse muss trotzdem sein, und so sehen wir einen Film, in dem Sohn Meese Mutter Meese noch mal erklärt, was es mit seiner Idee von der Diktatur der Kunst auf sich hat und warum er vielleicht nicht der Diktator selbst, sondern möglicherweise nur der Zwischendiktator dieser Kunst ist, während er mit Günter Grass telefoniert („Hier riecht es nach Kunst!“), sich zwischendurch eine Kindertrommel umhängt und wie Grass’Blechtrommler Oskar Matzerath trommelt, was das Zeug hält: „Ich bin der Babytrommler der Diktatur der Kunst!“

Jonathan Meese: „Dr. Zuhause: K.U.N.S.T. (Erzliebe)“: St. Petri Lübeck: bis 30. 3.; Günter-Grass-Haus: bis 4. 8.; Kunsthalle St. Annen: 31. 3. bis 4. 8.; Overbeck-Gesellschaft: 30. 3. bis 9. 6.