„Wir stellen uns gegenseitig Beine“

Die Chefs der Linksfraktion, Carola Bluhm und Udo Wolf, beklagen einen „vollständig albernen Politikmodus“ in der rot-rot-grünen Koalition. Bei der Fraktionsklausur am Wochenende soll es mit Gästen von SPD und Grünen auch darum gehen, nach ­zweieinhalb Jahren R2G endlich zum vereinbarten Miteinander auf Augenhöhe zu kommen

Da waren sie noch guter Dinge: Carola Bluhm (Mitte) und Udo Wolf (rechts) im September 2016 auf dem Weg zu den ersten ­Sondierungsgesprächen. Links der Parteivorsitzende Klaus Lederer Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Interview Stefan Alberti

taz: Herr Wolf, kürzlich wurde bekannt, Ihnen würde die Wohnung gehören, in der Sie wohnen. Stimmt das?

Udo Wolf: Ja.

Was würden Sie denn machen, wenn Ihnen jemand vorschreiben würde, dass Sie ihm – obwohl Sie gar nicht wollen – die Wohnung überlassen, und zwar für einen Bruchteil des Preises, den Ihnen andere zahlen würden?

Wolf: Wenn er die gesetzliche Grundlage dafür hat, kann ich da wenig gegen tun – ich muss das ja nicht gut finden.

Die Linkspartei unterstützt – für Großeigentümer mit mehr als 3.000 Wohnungen – einen solchen Enteignungskurs, sie hat sich hinter das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ gestellt. Da können Sie als Eigentümer ja selbst nachvollziehen, dass die davon nicht begeistert sind.

Wolf: Ich bin aber kein international agierender Wohnungskonzern, der versucht, maximale Rendite zu erzielen. Das ist doch ganz was anderes. Ich wohne im selbst genutzten Wohneigentum, da wird niemand kommen und mir das wegnehmen. Das belastet nicht den gesamten Mietwohnungsmarkt. Das aber passiert, wenn Eigentümer versuchen, mit Mietwohnungen und Immobilienspekulation Profit zulasten der Mieterinnen und Mieter zu machen.

Profit ist doch seit jeher der Ansporn für wirtschaftliche Betätigung und nicht per se schlecht.

Wolf: Dann sagen wir es mal ganz unmarxistisch mit Paracelsus: „Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“

Carola Bluhm: Diese Art von Immobilienspekulation ist ein Marktversagen. Da stellt sich dann die Frage: Wie kann der Staat regulierend eingreifen? Es geht um die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Es gibt auch anständige, vernünftige private Vermieter in der Stadt. Denen wollen wir auch gar nicht ans Eigentum – aber wir wollen Regeln, die für alle gelten, wie mit Mietwohnungen umgegangen werden darf.

Die Rating-Agentur Moody’ s, bestimmt nicht Ihr Lieblingsunternehmen, aber sehr einflussreich, denkt daran, Berlins Bonität wegen der Enteignungsdebatte herabzustufen. Das könnte neben einer noch ungeklärten Entschädigung in Milliardenhöhe heißen: teurere Kredite, abgeschreckte Investoren – ist das noch tragbar?

Wolf: Wie viel Entschädigung fällig wird, ist ja noch gar nicht geklärt. Und dass nun ein Rating-Unternehmen, das ja auch bei der letzten Finanzmarktkrise eine interessante Rolle gespielt hat, versucht, Klassenkampf von oben zu spielen, wundert uns nicht.

Klarheit würde ja schon mal bringen, wenn die Leute wüssten, wo der Senat bei der Frage einer Enteignung steht – bislang gibt es nur widersprüchliche Positionen der Koalitionsparteien.

Bluhm: Wir haben eine offene gesellschaftliche Debatte darüber, welche Instrumente zur Regulierung der Mietmarktes zu nutzen sind. Dass wir regulieren müssen, stellt bei Rot-Rot-Grün keiner in Frage. Rekommunalisierung, Vorkaufsrecht nutzen, Mietendeckel – und eine Enteignungsdebatte, die von einer Volksinitiative angestoßen wurde, auf die sich auch der Regierende Bürgermeister anfänglich positiv bezogen hat. Dass man das nämlich nicht ignorieren könne …

… was auch bei CDU und FDP zu hören ist, auch wenn die eine Enteignung ablehnen.

Bluhm: Wir meinen, dass wir alle Instrumente prüfen und im Zweifelsfall anwenden müssen. Wir müssen im Übrigen erst dann zu einer Entscheidung kommen, wenn der Senat eine offizielle Stellungnahme zum Volksbegehren abgeben muss. Aber so weit sind wir noch lange nicht, das ist noch ein langer Diskussionsprozess bis dahin.

Kann es sich eine Landesregierung leisten, bei einer zentralen Frage wie „Enteignung ja oder nein?“ die Antwort so lange schuldig zu bleiben?

Bluhm: Wir haben ein Interesse daran, dass bundesweit die Diskussion über die Verfügungsgewalt über Boden und Wohnungen sehr intensiv geführt wird. Denn das ist nicht nur für Berlin ein zentrales Problem. Eine Vergesellschaftung nach Artikel 15 des Grundgesetzes wäre Neuland. Das sollte sorgfältig diskutiert werden. Das braucht offensichtlich auch Zeit.

Bei der rot-rot-grünen Halbzeitbilanz, die an diesem Wochenende auch Ihre Klausurtagung in Rheinsberg beschäftigt, gibt es noch ein zweites Volksbegehren, das die Koalition spaltet: Videoüberwachung. Regierungschef Michael Müller hat Ihre Partei nun in aller Freundschaft daran erinnert, dass Regieren nicht nur heiße, einen Koalitionsvertrag abzuarbeiten. Dort ist mehr Videoüberwachung nicht vorgesehen.

Wolf: Es ist ja nicht so, als ob wir nicht pausenlos beim Thema innere Sicherheit diskutieren würden, Sinn und auch konkreten Wortlaut des Koalitionsvertrags in konkrete Gesetze zu bringen und weiterzuentwickeln. Eine Differenz haben wir bei der Frage, welche staatlichen Eingriffe wir bürgerrechtlich auch bei einer sich anspannenden Sicherheitslage für vertretbar halten. Da haben wir – und die Grünen übrigens auch – deutlich gesagt, dass der Einstieg in eine flächendeckende Videoüberwachung für uns nicht in Frage kommt. Der Koalitionsvertrag kann geändert werden, aber nur einvernehmlich.

Die Linkspartei regiert Berlin seit Ende 2016 mit SPD und Grünen, zum zweiten Mal nach dem rot-roten Bündnis von 2002 bis 2011. In ihrer Koalitionsvereinbarung, betitelt mit „Berlin gemeinsam gestalten“, haben sich die drei Partner ausdrücklich „gutes Regieren“ vorgenommen. Die SPD, bei der Wahl noch vorn, ist in Um­fragen mit derzeit 17 Prozent nur noch dritte Kraft in der Koalition, hinter den Grünen mit 22 und der Linkspartei mit 18 Prozent.

Die Linksfraktion führen Udo Wolf und Carola Bluhm (beide 56) gemeinsam seit 2016. Zuvor war Wolf ab 2009 alleiniger Fraktionschef. Bluhm war von 2009 bis 2011 Sozialsenatorin.

Die Klausurtagung findet von Freitag bis Sonntag im von Kurt Tucholsky literarisch verewigten Rheinsberg nordwestlich von Berlin statt, wenn auch nicht im Schloss, sondern im Seehotel. Themen sind Halbzeitbilanz und Strategie von R2G sowie Europa. (sta)

Bei der SPD ist doch gar nicht die Rede von flächendeckend, nur wenige kriminalitätsbelastete Orte sollen es sein.

Wolf: Und ich habe von einem Einstieg in die flächendeckende Überwachung gesprochen und einer Ermächtigung im Polizeigesetz. In der Gesetzeslogik ist da kein Unterschied zu dem, was diese Video-Initiative um Heilmann und Buschkowsky (Ex-CDU-Senator Thomas Heilmann und Neuköllns Ex-SPD-Bürgermeister Heinz Buschkowsky, Anm. d. taz) fordert.

Wie meinen Sie das?

Bei Eingriffsbefugnissen des Staates gegenüber den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern kann man immer sagen: Nur noch ein bisschen. Das hatten wir übrigens bei jeder Verschärfung von Sicherheitsgesetzen in der Bundesrepublik. Das war die Logik der Otto-Schily-Sicherheitspakete, die Logik von Schleierfahndung, Rasterfahndung und jetzt Staatstrojaner. Wir wollen mit R2G auf eine andere Logik setzen: Bessere Polizeiarbeit durch mehr Personal, bessere Ausbildung und bessere Ausrüstung. Videoüberwachung ist nur ein Gimmick, das bei der Verhinderung nichts, aber auch bei der Aufklärung von Straftaten nur wenig nutzt.

Nichts nutzt? Ohne die Videobilder der BVG hätte die Polizei nicht die Männer gefunden, die in der U-Bahn einen Obdachlosen angezündet oder eine Frau die Treppe runtergestoßen haben.

Wolf: Und wenn wir da Personal am U-Bahnhof gehabt hätten, hätte das vielleicht auch verhindert, aber mindestens genauso schnell aufgeklärt werden können. Mit dem Argument „Der Zweck heiligt die Mittel“ ließe sich auch Folter begründen – in Frankfurt wurde vor Jahren damit mal gedroht, weil man ein entführtes Kind sonst nicht finden würde.

Zwischen Videoüberwachung und Folter ist aber ein großer Unterschied.

Wolf: Ja. Aber es geht um die Begründungslogik. Weil etwas in zwei, drei Fällen erfolgreich war, kann man doch nicht die bürger- und freiheitsrechtlichen Risiken ausblenden und den Einstieg in einen uferlosen Grundrechtseingriff rechtfertigen.

Wie geht es denn nun weiter in der Koalition?

Bluhm: Das Spannende ist ja, dass wir eine ganze Menge mit den Sozialdemokraten für mehr Sicherheit in der Stadt verabredet haben – mehr Personal, mehr Ressourcen – das aber als R2G nicht selbstbewusst nach außen präsentieren, sondern stattdessen einen endlosen Streit um Videoüberwachung zelebrieren, der so viel Kraft frisst. Da geht es dann darum: Wer gewinnt, wer verliert, wer wahrt das Gesicht, wer nicht? Das ist ein vollständig alberner Politikmodus, der R2G in der Sache schadet.

Es kommt tatsächlich so rüber, als ob Sie im Dauerstreit wären …

Bluhm: … aber in 80 Prozent der Fälle einigen wir uns ja. Der verabredete Politikmodus – dass wir uns auf Augenhöhe begegnen wollen, dass wir gönnen können – hat nur in Ausnahmefällen funktioniert. Da können wir als Beispiel das Mobilitätsgesetz nehmen: Wir mussten erst mal durch eine Phase, in der wir uns gegenseitig öffentlich kritisierten, bevor wir uns dann doch geeinigt haben. Wir könnten auch beim Thema Personalentwicklung schon viel weiter sein. Eineinhalb Jahre haben wir da verplempert. Das alles passiert unter den Bedingungen, dass ein Koalitionspartner auch bundespolitisch so in der Krise und im Selbstfindungsprozess ist …

 klingt nach SPD …

… dass alles, was geschieht, immer vor Umfrageergebnissen reflektiert wird.

„So schnell knallen bei uns keine Sektkorken mehr“

Udo Wolf über den Rücktritt von Sahra Wagenknecht

Komisch ist: Eine große Mehrheit der Berliner ist in Umfragen unzufrieden mit der Arbeit des Senats – aber gleichzeitig würden jetzt mehr Menschen für SPD, Linkspartei und Grüne stimmen als bei der Abgeordnetenhauswahl 2016. Wie passt das zusammen?

Wolf: Das passt, weil diese Menschen es wichtig finden, dass an einem sozialen und ökologischen Wandel der Stadt gearbeitet wird. Und weil sie zugleich unzufrieden sind, dass wir diese Agenda zwar festgeschrieben haben, wir uns aber, statt sie umzusetzen, lieber darin erschöpfen, uns gegenseitig Beine zu stellen. Das wollen wir bei unserer Klausurtagung auch mit den Fraktionsvorsitzenden von SPD und Grünen diskutieren.

Mit welchem Ziel?

Bluhm: Jetzt zur Halbzeit muss sich entscheiden, ob wir in den eigentlich verabredeten Politikmodus reinkommen oder ob wir sagen: Wir murkeln das irgendwie hin, weil die Opposition so weit zurückliegt, dass das eh egal ist. Die Frage ist bloß, wie viel Frust wir aufbauen, wenn wir so weitermachen.

Während wir hier reden, muss Ihre Bundestagsfraktion eine Chefin oder einen Chef suchen. Sie waren ja nicht im selben Lager wie Frau Wagenknecht, da könnten ja die Sektkorken geknallt haben, als die Nachricht kam.

Wolf: So schnell knallen bei uns keine Sektkorken mehr. Es ist kein Geheimnis, dass wir bei dem Thema Flüchtlingspolitik und bei der strategischen Grundausrichtung große Differenzen zu Sahra Wagenknecht hatten. Im Berliner Landesverband sind da die Mehrheiten eindeutig.

Aus der SPD hieß es schnell, dass Rot-Rot-Grün auf Bundesebene jetzt leichter geworden sei.

Bluhm: Schön wär’s. Dann sollte die Bundes-SPD jetzt mal sehr stark darüber nachdenken, wie sie sich selbst in den vergangenen Jahren personell und politisch so aufgestellt hat. Als es die Chance gab, über politische Schnittmengen zu verhandeln, hat sich keine der drei Parteien auf Bundesebene mit Ruhm bekleckert. Wenn man jetzt bereit wäre, auch im Bund ernsthaft daran zu arbeiten, wäre das gut.