Ferien vom gefährlichen Chaos

Der afghanische Schriftsteller Merajudien Wejda besucht in Münster seine Familie und studiert das Bundesland

Die abendliche Stille in den Straßen der Friedensstadt Münsters hat Wejdan in den ersten Tagen beruhigt. Professor Merajudien Wejdan ist blind und kommt aus Kabul. In der afghanischen Hauptstadt ruhen das Leben und die militärischen Auseinandersetzungen auch nachts nicht.

Der 80-Jährige besucht seinen Sohn und dessen Familie, die seit elf Jahren in Münster leben und die er seitdem nicht mehr gesehen hat. Vier seiner fünf Söhne leben im Exil. Wejdan ist Historiker, Journalist und Dozent. Vor allen Dingen ist er Schriftsteller. Deshalb besucht er nicht nur seine Familie, sondern sammelt Eindrücke, sucht das Gespräch, besucht Menschen in der ganzen Bundesrepublik und stellt unendlich viele Fragen. „Er will wissen, wie das Leben hier ist, was die kleinen Leute beschäftigt, was sie denken und fühlen, um in seinem Land davon zu berichten und für Afghanistan zu lernen“, erklärt sein Übersetzer Emadudien Merajudien.

„Nichts darf verloren gehen“, sagt der Historiker, deshalb beschäftige er sich seit jeher so intensiv mit der Vergangenheit seines Landes. Sein viertes Buch über Geschichte und Entwicklung Afghanistans ist in Arbeit, verlegt wird es wohl im benachbarten Ausland. Die Druckereien und Verlage in Kabul sind noch nicht arbeitsfähig. Dennoch ist für ihn Afghanistan ein Land mit viel Potential und mit Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Seit Wejdan vor einigen Jahren bei einem Unfall sein Augenlicht verloren hat, ist er auf die Augen seiner Mitmenschen angewiesen. So wandert er an der Seite seiner Schwiegertochter durch die Straßen Münsters. Dabei erzählt er ihr die Stadtgeschichte, denn er gehört noch zu einer Generation, für die die Geschichte und Kultur Deutschlands auf dem Lehrplan standen. „Ich lerne zum ersten Mal, was in Münster alles passiert ist“, lächelt seine Schwiegertochter. Durch den blinden Patriarchen bekommt die junge Frau einen neuen Blick auf ihre zweite Heimat.

Der ist Teil der intellektuellen Oberschicht seines Landes, hat studiert. Seine Familie gehört bis heute zu denen, die die Verhältnisse in Afghanistan mitbestimmen. Als Mitarbeiter des Kultur- und Informationsministeriums war er vor der Machtergreifung der Taliban mitverantwortlich für die Medien. Vor den Sektierern floh er zeitweise nach Pakistan, arbeitet nun für den Wiederaufbau seiner Heimat. Fortschritt bedeutet für den alten Mann auch, dass Frauen stärker an der Entwicklung mitarbeiten und es freut ihn, dass sieben Ministerposten in Afghanistan mit Frauen besetzt sind.

Im „starken Deutschland“, wie er es nennt, will er für sein „schwaches“ Heimatland Kontakte knüpfen. Denn der Wiederaufbau stockt, die Hilfsgelder kommen selten beim Volk an, zu oft wird das Geld der Geberländer an ausländische Firmen vergeben, statt mit einheimischen Arbeitskräften den Wiederaufbau voranzutreiben. Knapp drei Monate bereist Merajudien Wejdan die Bundesrepublik und beim Abschied vom Münster empfiehlt er seiner Enkelin ein bisschen selbstbewusster zu sein, um nicht unterzugehen in der Welt. Diese Sorge gilt auch seinem Land, dass bis heute Spielball geostrategischer Interessen ist. Dass die momentane Regierung in Kabul kürzlich beschlossen hat, öffentliche Aufträge nur noch an einheimische Firmen zu vergeben, ist vielleicht ein erster Schritt zu einem selbstbewussten und unabhängigen Afghanistan.

DIRTEN PÜTTMANN