LIEBLINGSBANK
: Der Ort ist magisch

Die Sprayer haben sich schon ausgetobt

Meine Lieblingsbank steht an einer Brücke, die seit mehr als einem Jahr auf ihre Einweihung wartet. Alle zwei, drei Tage setze ich mich wieder auf die frisch lackierten Holzlatten und blicke den Zügen nach. Dann hole ich meine Zettel aus der Tasche und ordne meine Korrespondenzen. Ich bin einer dieser altmodischen Menschen, die E-Mails ausdrucken.

Von meiner Lieblingsbank kann man, wenn man Glück hat, den Eurocity, der über Prag und Bratislava nach Budapest fährt, sehen und, wenn man noch mehr Glück hat, einen Blick auf das Schlafwagenabteil erhaschen, das erst in Bukarest durchgefeudelt wird. Die untergehende Sonne taucht die ehemalige Kaserne gegenüber in gelbes Licht. Gen Norden ragen Baukräne in den Himmel, im Süden das gläserne Dach des Bahnhofs Südkreuz und über mir Wolken, die wie gefroren am Himmel stehen. Kaum blicke ich wieder von meinem Schriftkram auf, haben sie ihre Form völlig verändert.

Dieser Ort ist magisch – noch: bevor die Zäune ohne Zeremonie abmontiert werden und sich nicht einmal der unbekannte Vertreter eines unbekannten Bezirkspolitikers hier einfindet, um den Massen von Joggern und Radfahrern den Weg zu bahnen.

Jetzt, abends, herrscht hier kaum Verkehr. Nur ein paar Versprengte mäandern herum, Menschen, die sich durch den schmalen Spalt zwischen zwei Bauzäunen quetschen. Wie der glatzköpfige Walker mit seinen zwei Stöcken, der sich sogar bis dorthin vorwagt, wo ich nie gewesen bin. Auf die Brücke. Oder dieses Paar, sie schwanger in Leggins und zaghaft, er mit dieser Drei-Tage-nicht-geschlafen-Frisur, der ihr versichern muss, da hinten kommen wir wieder raus. Alle, die sich hinter die Absperrung wagen, gehen auf die vierzig zu; kein Jungspund in Sicht. Die Sprayer haben sich vor Monaten schon an den Brückenpfeilern ausgetobt. TIMO BERGER