„In den Köpfen kursieren die Mythen“

Alles zurück auf Start? Die Berliner Aids-Hilfe e. V. gibt es bereits seit 20 Jahren. Statt großer Erfolge, sagt Geschäftsführer Kai-Uwe Merkenich, steht die Aufklärungs- und Präventionsarbeit für den Verein wieder ganz oben

taz: Herr Merkenich, der Verein Berliner Aids-Hilfe ist nun seit 20 Jahren aktiv. Haben sich Ihre Arbeitsschwerpunkte im Lauf der Zeit verändert?

Kai-Uwe Merkenich: In den ersten 10 Jahren lag unsere Hauptaufgabe bei der Aufklärung über HIV und Aids. Wir wollten erreichen, dass HIV-Infizierte nicht diskriminiert und ausgegrenzt werden. Es gab paranoide Fantasien, dass HIV über Speichel oder Insektenstiche übertragen wird. Die zweite wichtige Hilfe galt den Aidskranken, die damals in kurzer Zeit schwer krank wurden. Es galt, sie beim Sterben zu begleiten. Durch die antiretrovirale Therapie hat sich unsere Arbeit in den 90er-Jahren stark verändert.

von der Sterbehilfe zur Lebenshilfe?

Ja. Durch die Medikamente leben die Erkrankten deutlich länger. Aber eine Infektion bedeutet oft sozialen Abstieg. Viele verlieren ihre Arbeit, haben keine Rentenansprüche oder werden Hartz-IV-Empfänger. Dann treten finanzielle Notlagen auf. Deshalb haben wir mit Hilfsangeboten die soziale Sicherung stärker in den Fokus gerückt. Trotzdem begleiten wir HIV-Infizierte durch häusliche Pflege beim Sterben. Jede Woche sterben in Berlin zwei Menschen an den Folgen von Aids.

Sind es immer noch überwiegend schwule Männer, die Ihre Hilfe in Anspruch nehmen?

Nein, nicht ganz. Etwa 50 Prozent kommen aus der schwulen oder bisexuellen Szene. Aber es sind auch viele Drogenkonsumenten oder Menschen mit Migrationshintergrund, die sich an uns wenden. Das liegt daran, dass sie sich häufiger in schwierigen Lebenssituationen befinden und öfter hilfsbedürftig sind.

Trotz Aufklärung steigt die Zahl der HIV-Infektionen wieder an. Berlin war bundesweit bekannt für seine hohe Aidsrate. Wie ist das heute?

Auch hier verzeichnen HIV-Infektionen einen deutlichen Zuwachs. In den 90er-Jahren war die Zahl relativ niedrig, heute infizieren sich etwa 350 Menschen pro Jahr. Weniger die jungen Leute, es ist die Altersgruppe zwischen 30 und 50 Jahren, die sich überproportional neu infiziert.

Wurde nach den Kampagnen der 90er-Jahre die Aufklärung vernachlässigt?

Wir haben in den letzten Jahren verstärkt Aufklärungskampagnen gemacht. Aber es gibt eine Präventionsmüdigkeit. Es ist nicht so, dass jetzt überall Sex ohne Kondom stattfinden würde. Vielmehr gelingt es vielen Menschen nicht, sich über Jahre hinweg zu schützen. Das passiert kopflos, auf Partys, wo man Alkohol oder Drogen konsumiert. Außerdem gibt es den Irrglauben, man sehe es einem Menschen an, wenn er infiziert ist.

Wer ist in Berlin betroffen?

In Berlin haben wir die besondere Situation, dass es eine ausgeprägte Szene von schwulen und bisexuellen Männern gibt. Hier ist die Gefahr, sich mit HIV zu infizieren, am größten. 80 Prozent der Neuinfektionen betreffen Männer, die mit Männern Sex haben. Im Bundesgebiet ist der Anteil mit 55 Prozent viel geringer.

Was unternimmt die Berliner Aids-Hilfe gegenwärtig, um nachhaltiger aufzuklären?

Wir veranstalten verschiedene Kampagnen wie den Welt-Aids-Tag oder jetzt den Reminders Day. Jedes Jahr sind wir auf dem Christopher Street Day vertreten. Zur Jugendaufklärung gibt es im Verein ein Schoolworkteam, das Schüler und Schülerinnen über Sexualität und HIV informiert.

Klären die Lehrenden im Schulunterricht zu wenig über die HIV-Gefahren auf?

Auf jeden Fall. Wir wundern uns oft über den Wissensstand der SchülerInnen. Die wenigsten sind darüber informiert, dass HIV nur über Blut, Sperma oder Vaginasekret übertragen wird. In den Köpfen kursieren weiter die Mythen von der Übertragung durch Mückenstiche oder Speichel. Interview: T. Greiner