Bloß keinen Sonnenstrahl auslassen

Sonnenbaden macht süchtig. Wissenschaftler aus dem sonnenverwöhnten Texas meinen, eindeutige Hinweise für diese These gefunden zu haben

Über 100.000 Bundesbürger pro Jahr erkranken derzeit an Hautkrebs, so viele wie nie zuvor, und in den letzten 15 Jahren verdoppelte sich hierzulande das Risiko für lebensbedrohliche Melanome. Für Wissenschaftler besteht in der Regel kein Zweifel daran, dass dieser Trend einen engen Zusammenhang mit der Sonnenanbeterei unsere Tage hat. Denn trotz aller Warnungen gehört für den blassen und pigmentarmen Mitteleuropäer das stundenlange Sonnenbaden immer noch zu seinen liebsten Freizeitbeschäftigungen.

Die Urlauber auf Mallorca oder Korsika gehen nicht etwa in den dortigen Bergen wandern, sondern legen sich am Strand oder am besten gleich am Hotel-Swimmingpool in die Sonne. Und auch die Sonnenstudios liegen laut Angaben ihres Photomed-Verbands stabil über einer Milliarde Euro Umsatz pro Jahr. Fürs Braunwerden scheint der Bundesbürger also bereit zu sein, seine Gesundheit für viel Geld aufs Spiel zu setzen.

Möglicherweise hat die Sonnenanbeterei aber auch eine ganz andere Motivation, nämlich die Sucht. Wissenschaftler der University Galveston im amerikanischen und sonnenverwöhnten Texas haben jedenfalls in einer aktuellen Studie deutliche Hinweise auf diese Erklärung gefunden. Sie unterzogen 145 eifrige „Beachgoers“ dem so genannten Cage-Test, der normalerweise von Ärzten und Psychologen verwendet wird, die Alkoholabhängigkeit ihrer Patienten zu ermitteln. Das Ergebnis: 38 der befragten Sonnenanbeter, also deutlich über 25 Prozent, erfüllten die Cage-Kriterien einer Abhängigkeit.

Noch deutlicher wurden die Quoten, wenn die aktuellen Kriterien des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ für Drogenabhängigkeit auf die Sonnenanbeter angewendet wurden. Hier mussten dann sogar 77, also über die Hälfte der Probanden als abhängig eingestuft werden. Studienleiter Richard Wagner bezeichnet diese Zusammenhänge als „frappierend“. Sie gäben eine plausible Erklärung für die nicht nur unter Dermatologen diskutierte Frage, warum sich Menschen – trotz ihres Wissens um die möglichen Risiken – stundenlang dem UV-Licht aussetzen.

Offen bleiben allerdings die physiologischen Ursachen der Sonnensucht. Eine mögliche Erklärung wäre, dass hohe Dosierungen an Sonnenlicht euphorisierende Botenstoffe im Hirn freisetzen, die den betreffenden Menschen nach häufiger Wiederholung dieser Situation trachten lassen – ein Phänomen, das man ja in ähnlicher Weise auch beim Runner’s High der Marathonläufer beobachten kann.

Möglich wäre aber auch, dass der abhängige Sonnenanbeter mehr als andere Menschen in seinen Entscheidungen von seiner rechten, irrational-emotionalen Hemisphäre geleitet wird. Dies würde erklären, warum er trotz Einsicht in die medizinischen Zusammenhänge darauf hofft, dass sein exzessiver UV-Konsum ausgerechnet bei ihm keine Folgen haben würde. Für diese These spricht, dass auch bei Spielsüchtigen überdurchschnittlich oft eine Überbetonung der rechten Hirnhälfte gefunden wurde. JÖRG ZITTLAU