Das Jahr, in dem die Grundlage gelegt wurde für die späten NS-Prozesse, die jetzt geführt werden, ist 2015. Denn das Landgericht Lüneburg unterschied nicht, wie vorher üblich, zwischen dem Dienst in einem reinen Vernichtungslager wie Sobibor oder einem wie Auschwitz, das zugleich KZ und Vernichtungslager war. Mit Oskar Gröning, dem sogenannten Buchhalter von Auschwitz, wurde ein SS-Mann aus einem solchen Lager wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, ohne dass ihm eine konkrete Einzeltat nachgewiesen werden musste. 1969 wäre auf dieser Grundlage kein Urteil möglich gewesen. Damals musste das Gericht den Beschuldigten eine Einzeltat nachweisen. Was in der Praxis oft unmöglich war: zu ungenau waren die Erinnerungen vor allem der Opfer. Und von Täterseite war wenig Hilfe bei der Aufklärung zu erwarten.

Nun wird anders verfahren. Und eben das scheint mir der Kern der Irritation zu sein, die die Prozesse mit sich bringen. Es ist keine inhaltliche Irritation, etwa weil das Konzept der Zugehörigkeit zu einer Vernichtungsmaschinerie nicht überzeugte. Sondern eine grundsätzlichere, die einem zugestandenermaßen naiven Verständnis von Justiz geschuldet ist, nämlich dem, dass sie unwandelbar ist und unangefochten vom Zeitgeist. Wie kann es sein, dass man innerhalb von zehn Jahren von der Auffassung, dass Mord verjährt, zur gegenteiligen Auffassung kommt? Warum hält man jahrzehntelang in Verfahren, die dem gegen Gröning vergleichbar sind, den Einzeltatnachweis für notwendig und erkennt nun, dass „funktionelle Beihilfe“ Grundlage genug ist für die Strafverfolgung?

Recht ist wandelbar, und damit bekommt es den Ruch des Willkürlichen. Und diese Wandelbarkeit beschränkt sich nicht auf den fernen Saal, in dem die NS-Männer angeklagt werden. Recht bestimmt, wann Leben beginnt und wann es endet. Es bestimmt, was eine nicht strafbare Abtreibung und was strafbare Tötung ist, ob jemand lebendig oder tot ist. Rechtsprechung ist unentrinnbar Teil des Zeitgeistes, und dass kann je nach Sicht mutlos oder hoffnungsvoll machen. Teil des Zeitgeistes war das Argument in der Verjährungsdebatte von 1965, demzufolge man wegen der vorzeitige Entlassung von NS-Tätern durch die Alliierten ohnehin schon mit Massenmördern lebe. Teil des Zeitgeistes ist heute die Auffassung, dass es von Bedeutung ist, den Opfern als Nebenklägern eine Stimme zu geben. Und daneben gibt es die blinden Flecken, die Ungereimtheiten, die man nicht erkennt, weil einem der Abstand dazu fehlt. Und solche, die man nicht benennt, weil einem der Mut fehlt, von der Mehrheitsmeinung abzuweichen.

Es ist kaum möglich, das Zusammenspiel von juristischer Praxis und Zeitgeist nachzuzeichnen. Fragt man Juristinnen und Juristen danach, so sagen sie gleichermaßen lapidar und schlüssig, dass in den Urteilsbegründungen nichts stehe, was über das Juristische hinausginge. Von daher ist also kein Aufschluss zu erwarten. Und fragt man, wie es zum Urteil gegen John Demjanjuk kommen konnte, dann heißt es, dass das Interesse und die Hartnäckigkeit einzelner StaatsanwältInnen dafür gesorgt habe. Wie aber auch die Prozesse gegen die Zuträger der Anschläge von 9. 11., die den Blick für die Arbeitsteiligkeit beim Verüben großer Verbrechen geschärft hätten. Die Einflüsse mischen sich, individuelle, strukturelle und vermutlich steht man bei ihrer Betrachtung noch viel zu nah vor dem Bild, um etwas über seine Komposition sagen zu können.

Es spielt keine Rolle, wie viele Leute im Zuschauerraum sitzen

Die Medien haben groß über den Prozess gegen John Demjanjuk und fünf Jahre später über den gegen Oskar Gröning in Lüneburg berichtet. Vielleicht ist die Pressekarawane jetzt weitergezogen und die letzten Prozesse finden vor allem das Interesse einer kleinen Gruppe von Juristen – so empfinden es zumindest einige der Beteiligten. Die in ihrem Bekanntenkreis gelegentlich gefragt werden, ob hier nicht Energie und Steuergelder verschwendet würden. Aber, und das ist die Stelle, an der die Justiz in beruhigender Weise der Gesellschaft enthoben ist, es spielt eben keine Rolle, wer und wie viele Leute im Zuschauerraum sitzen.

Wer die Verfahren verfolgt, erhält eine Lehrstunde darin, das auszuhalten, was die Juristen „Keine Gleichheit im Unrecht“ nennen – nur weil A. der gerechten Strafe entging, hat das keine Bedeutung für B.s Strafe. Wie kann es sein, dass der Kommandant von Stutthof 1957 zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt und daraus nach drei Jahren entlassen wurde? Ungefähr das hat der nun angeklagte frühere Wachmann aus Stutthof einen Staatsanwalt gefragt. Wenn es nach mir ginge, wäre er für den Rest seines Lebens in Haft gewesen, antwortete der Staatsanwalt.

Wie kann es sein, dass der Kommandant von Stutthof 1957 zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt und daraus nach drei Jahren entlassen wurde? Ungefähr das hat der nun angeklagte frühere Wachmann aus Stutthof einen Staatsanwalt gefragt

Diese Prozesse bieten einen Anlass, darüber nachzudenken, warum und dass es keiner Gesellschaft zu gelingen scheint, eine kollektive Schuld dann abzutragen, wenn es wirklich weh tut: unmittelbar danach, wenn die Angeklagten verhandlungsfähig sind und die Beweislage gut. Dann, wenn die Mitte der Gesellschaft die Folgen spürt, ganz hautnah, weil es die Mitte der Gesellschaft ist, gegen die verhandelt wird. Die 6.500 Wachleute von Auschwitz nach 1945 vor Gericht hätte etwas anderes bedeutet, als heute 30 zu belangen.

Kann man überhaupt Schlüsse ziehen aus den späten Prozessen für die Gegenwart? Muss man es? Prozesse als politische Bildungsarbeit sozusagen, die fragen lassen, wo stehe ich heute, wo bin ich Teil eines Systems, das Unrecht tut?

Die Juristen reagieren darauf sehr zurückhaltend. Wie immer man zur Not der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer stehe, sagt einer, es sei eine andere Dimension als die Vernichtung durch das NS-Regime. Man kann die Prozesse zum Anlass nehmen, zu fragen, wo man Ähnlichkeit mit den Angeklagten hat. Menschen, die, so sagt es einer der Staatsanwälte, in der Öffentlichkeit zunehmend wenig diabolisiert würden. Es sind nicht mehr die fernen Monster, deren Untiefen nichts mit den eigenen zu tun haben. Man kann den Erörterungen folgen, welche Angst berechtigt war, welcher Widerstand in einem Maß zu erwarten ist, dass man sich strafbar macht, wenn man passiv bleibt.

Die Gerichte entscheiden darüber und es ist keine Aufgabe, um die man sie beneiden würde. Sie tun ihre Arbeit in der Zeitverhaftetheit, in der wir alle leben. Wir können ihr kaum entkommen, aber wir sollten um sie wissen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.