berliner szenen
: Heult im Schlaf, die Ohren zu

Oh Oranienplatz. Zwei Männer mit blauen Gummihandschuhen befreien die Altglascontainer von Plakaten und Aufklebern und reinigen sie mit Schwämmen und Drahtbürsten. Ein junges Paar bleibt in der Mitte des Platzes stehen und umarmt und küsst sich, plötzlich schiebt die Frau den Mann von sich weg, ballt die Faust und presst die Stirn an seine Brust. Ein Mann in Zimmermannshosen zieht einen Kamm aus der Tasche und kämmt sich im Gehen das lange weiße Haar. Jemand fährt schnell in einem elektrischen Rollstuhl vorbei. Ein Alter mit Cowboyhut und Mona-Lisa-T-Shirt lässt sich von einem Mädchen fotografieren, das mit ihrem Freund auf Englisch spricht. Ein Kind stürzt mit dem Rad und fängt erst an zu weinen, als die Mutter gelaufen kommt. Eine Frau hält sich einen Aldi-Prospekt über den Kopf als Schutz vor dem Regen. Ein dunkelhäutiges Mädchen an der Hand einer hellhäutigen Frau trägt einen rosa Regenmantel, rote Strumpfhosen und dunkelblaue Wollhandschuhe. Das Kind mit dem Rad fährt in eine Schar Tauben, die auffliegen, um sogleich wieder auf derselben Stelle zu landen. Eine Frau in einem gelben Sommerkleid hält sich die Ohren zu, als ein Polizeiwagen mit Martinshorn vorbeifährt. Eine andere trägt eine Tüte mit der Aufschrift „Alles Bio“ in der einen, eine zweite mit der Aufschrift „Mäc Geiz“ in der anderen Hand. Der Hund des Obdachlosen heult im Schlaf, als ein weiterer Polizeiwagen vorbeifährt. Vor dem Brunnen versammelt sich eine Gruppe Touristen um eine Stadtführerin, die ihnen den Verlauf des Luisenstädtischen Kanals zeigt.

Nichts ist erkannt, kein Gedanke, kein Satz ist notwendig richtig, kein Wort, keine Bedeutung festgeschrieben. Die einen spielen Klavier, die anderen Bechstein, steht auf dem Bus.

Sascha Josuweit