Lieder gegen das Zuchthaus Deutschland

TON STEINE SCHERBEN Vor 40 Jahren erschien das längst legendäre Album „Keine Macht für Niemand“ der Scherben. Eine Ausstellung in Kreuzberg zeigt Fotos aus dem Alltag der Band-Kommune

Die Lieder der Scherben werden immer noch als zu radikal empfunden, um im Radio gespielt zu werden

VON FATMA AYDEMIR

Künstliches Licht fällt auf die sterilen Gänge und Glasflächen der hübsch angerichteten Warentheken in der Markthalle am Marheinekeplatz. Es riecht nach frischen Kräutern und Würstchen, sonst aber deuten die Indizien eher auf eine moderne Shopping-Mall. Einen traditionsreichen Markt stellt man sich eigentlich anders vor. Auf der seitlichen Empore befindet sich die Browse Gallery, wo in der Ausstellung „40 Jahre Keine Macht für Niemand“ Schwarz-Weiß-Fotografien vom Kommunenleben der Polit-Rockband Ton Steine Scherben gezeigt werden. Über die Köpfe der Gourmet- und Biowarenhändler hinweg soll hier das Flair von 1972 neu belebt werden. Wer es mit nach Hause nehmen möchte, kann eine signierte und ungerahmte Reproduktion für 250 Euro erwerben.

„Wir müssen hier raus! Das ist die Hölle! Wir leben im Zuchthaus!“, ruft Rio Reiser im ersten Stück des Albums „Keine Macht für Niemand“, das als erste ernstzunehmende Rockplatte in deutscher Sprache gehandelt wird. Es ist ein Befreiungslied für die vielen junge Menschen, die sich von der Gesellschaft eingeengt und von der Generation der Eltern missverstanden fühlen. Die Scherben lieferten den Soundtrack zu den Protesten und Hausbesetzungen Anfang der 70er Jahre. In dieser Zeit lebte die Fotografin Rita Kohmann mit der Band als Teil der Kommune am Tempelhofer Ufer in Kreuzberg. Ihre nun erstmals veröffentlichten Bilder zeigen die Scherben beim Proben, Gitarrist R.P.S. Lanrue in der Küche beim Zwiebelschneiden und die Drummerin Britta Neander bei der Arbeit an der Nähmaschine.

Es sind unspektakuläre Alltagsmomente, die für den Betrachter erst in einem Kontext ihren Wert gewinnen. Diesen zeichnet das seitenweise ausgestellte Songbuch „Guten Morgen“, welches die Scherben im Selbstverlag als Beilage für die LP „Keine Macht für Niemand“ herausgegeben hatten. Zu jedem der Songtexte gibt es Geschichten, Comics und Fotos, die den Ethos der Band, mal in kompromisslosen Diktaten, mal in humoristischen Bildern transportieren. Ratschläge zur Antragstellung für eine Abtreibung und ein öffentlicher Nachbarschaftsbrief gegen Mieterhöhungen in Kreuzberg reihen sich neben Interviews mit amerikanischen Straßenkämpfern und Freilassungsforderungen für inhaftierte Terroristen.

Dieses revolutionäre Pamphlet ist eine notwendige Ergänzung zur anmutigen Ruhe, mit der Rio Reiser inmitten von vollen Aschenbechern und Stapeln von Zeitschriften auf einem Bild Ideen für neue Lieder zu sammeln scheint. Auch wenn diese lange verborgenen Snapshots für Fans ohnehin von unvergleichlichem Wert sein dürften. Ungleich anderen Bands werden die Scherben von linksalternativen Zeitzeugen immer noch hoch geschätzt. Das verdankt die Gruppe zum einen ihrem frühen Rückzug aus der Öffentlichkeit. Zum anderen aber wird die Band auch weiterhin von der Öffentlichkeit ausgeschlossen, die Scherben-Lieder werden immer noch als zu radikal empfunden, um im Radio gespielt zu wer- den.

Allgegenwärtig ist in den frühen Songs die Utopie, sich inmitten der kapitalistischen Warenlogik eine Insel zu schaffen, auf der Arbeit, Liebe und Musik frei praktiziert werden und eben nicht zur Ware verkommen. Dass das Buch und die Gesichter der Scherben nun ausgerechnet im Supermarkt hängen, ist ein trauriges Zeugnis unserer Zeit, in der die Vergangenheit zum schicken Retro-Gimmick wird. Der Ausstellungsort ist eine der letzten historischen Markthallen Berlins. Die Marheinekehalle wurde erst vor vier Jahren im Zuge ihrer Sanierung zum aseptischen Treffpunkt für Feinschmecker aus dem Bergmannkiez.

„Macht kaputt, was euch kaputt macht“ wiederum könnte zum Höhepunkt der Show werden, wenn sich die übrig gebliebenen Scherben am 17. und 18. September im Theater Tiyatrom zu Jubiläums-Konzerten auf der Bühne wiedertreffen. Ob und was kaputt gegangen ist in der ehemaligen Hausbesetzerszene, wird hoffentlich Thema der Public Talks sein, die den Konzerten jeweils vorausgehen werden.