die woche in berlin
: die woche in berlin

Alle reden über den Mietendeckel – gerät darüber die Enteignungsdebatte jetzt in Vergessenheit? Was auf jeden Fall weitergehen muss: die Aufarbeitung der „Kentler-Experimente“, auch wenn die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen nun einstellt. Und in puncto Neutralitätsgesetz braucht es endlich eine verbindliche Rechtsprechung

Grundsätzlicher als ein Mietenstopp

Niemand redet mehr über die Enteignungsdebatte

Alle sprechen über den Mietendeckel, niemand mehr über Enteignungen. Das war zuletzt der Eindruck, auch nachdem sich die Koalitionäre auf ihren Mietendeckel geeinigt hatten. Dieser fällt nun zwar gemäßigter aus, als ein Tage zuvor aus der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung durchgestochenes Papier vermuten ließ. Doch auch dieser Deckel wird die Mieten auf eine Weise regulieren, die dem Mietenwahnsinn – trotz aller Schwächen, Ausnahmen und praktischen Ungewissheiten – für die kommenden fünf Jahre Einhalt gebieten wird.

Die Frage ist nun: Schafft der Deckel das auf eine solche Weise, dass die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne, wie von der Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“gefordert, überflüssig wird? Noch entscheidender: Glauben die Berliner, dass es wegen des Mietendeckels Enteignungen nicht mehr braucht?

Diesen Eindruck, hieß es immer wieder, würden manche Sozialdemokraten gern vermitteln. Sie sähen den Mietendeckel nicht als Selbstzweck, sondern auch als Gegengift gegen die Enteignungsbewegung, hörte man aus Koalitionskreisen. Schließlich waren es drei sozialdemokratische Politiker die die Mietendeckeldebatte ursprünglich so richtig in Fahrt gebracht hatten.

Was der Mietendeckel schon vor seiner finalen Realisierung bewirkt: Das Enteignungsvolksbegehren befindet sich jetzt unter größerem Argumentations- und Legitimationsdruck. Das ist nicht unbedingt schlecht für die Kampagne. Und in jedem Fall ist es gut für die Debatte. Der Mietendeckel ist zwar ein wichtiger Schritt im Kampf gegen den Mietenwahnsinn, er hat aber seine Schwächen.

Da ist die Frage nach der Umsetzung, da sind die bürokratischen Hürden für Mieter, die ihre Miete senken dürften. Da ist die Tatsache, dass Immobilienkonzerne trotzdem weiterverdienen können – über Umwandlungen in und Verkauf von Eigentumswohnungen zum Beispiel.

Ob die Enteignungskampagne trotz Mietendeckel eine gewisse Dynamik bewahren kann, wird deshalb von der Diskursführung der Aktivisten abhängen. Schaffen sie es, den systemkritischen Kern – Wohnen nicht als Ware, sondern als Grundrecht – so zu vermitteln, dass den Berlinern klar wird: Hier geht es um Grundsätzlicheres als um einen fünfjährigen Mietenstopp? Trauen sie sich, das noch offener zu betonen als bisher? Das ist strategisch riskant, aber vielleicht die einzige Chance auf Erfolg.

Ein aktueller offener Brief der Aktivisten an Berliner Sozialdemokraten deutet zumindest darauf hin, dass sie diesen Weg gehen werden. Mit Bezug auf den Mietendeckel heißt es dort: „Wir brauchen dringend auch nachhaltige Maßnahmen, die das Problem an der Wurzel bekämpfen.“ Volkan Ağar

Der Senat muss jetzt Licht ins Dunkel bringen

Ermittlungen im „Kentler-Experiment“ werden eingestellt

Leben wurden zerstört – und hinterher will es keiner gewesen sein. Dieser Gedanke drängt sich auf, wenn man hört, dass die Staatsanwaltschaft, wie am Donnerstag bekannt wurde, die Ermittlungen im Fall Kentler eingestellt hat.

Was unter dem Namen „Kentler-Experiment“ bekannt geworden ist, zählt zu den größten pädagogischen Skandalen der Nachkriegszeit: Das Jugendamt Kreuzberg und das Jugendamt Tempelhof-Schöneberg vermittelten rund 30 Jahre lang Jungen an vorbestrafte Pädosexuelle. Diese galten, laut eines Gutachtens des umstrittenen Sexualpädagogen Helmut Kentler, als besonders geeignet für „schwierige“ Kinder.

Noch bis ins Jahr 2001 bestanden solche Pflegestellen, eine Lizenz zum Kindesmissbrauch. Lange nahm niemand Notiz davon – erst 2015, nachdem Medienberichte die Vorgänge offenlegten, ließ der Senat die Vorfälle untersuchen. Ein erstes Gutachten konnte nicht klären, wer für das ungeheuerliche Experiment verantwortlich war. Dafür meldeten sich drei Betroffene – und berichteten von jahrelanger systematischer sexueller und psychischer Gewalt.

Zwei der Männer, die bei dem Pflegevater Fritz H. untergebracht wurden, erstatteten Anzeige gegen einen Jugendamtsmitarbeiter. Er soll von der Neigung des Pflegevaters gewusst und jahrelang konkrete Hinweise auf körperliche und sexuelle Gewalt ignoriert haben. Doch all das ist lange her. Und die chaotische Aktenlage, durch die sich die Ermittler zwei Jahre lang gewühlt haben, wirft ein Licht auf die Zustände in der Berliner Verwaltung: Noch nicht einmal ein Organigramm des damaligen Jugendsenats konnte aufgetrieben werden.

Die Ermittlungen liefen ins Leere. Für eine Mittäterschaft des Jugendamtsmitarbeiters, der später ein Bezirksamt leitete, gebe es keine Anhaltspunkte, so die Staatsanwaltschaft. Der beschuldigte Pflegevater ist verstorben, den Betroffenen bleibt nur noch die Zivilklage.

Akte zu, Ende? Das wäre schlimm. Jemand muss Verantwortung übernehmen für das Unrecht, das den Pflegekindern angetan wurde. Ein zweites Gutachten der Uni Hildesheim steht noch aus. Der Berliner Senat muss die ForscherInnen ohne Wenn und Aber dabei unterstützen, Licht in die politischen Strukturen zu bringen, die dieses „Experiment“ ermöglichten. An einem Organigramm sollte es nicht scheitern. Nina Apin

Akte zu, Ende? Das wäre schlimm. Jemand muss Verantwortung übernehmen

Nina Apin über die Einstellung der Ermittlungen im „Kentler-Experiment“, das Kinder an Pädophile vermittelt hatte

Bitte höchst-richterlich bestätigen

Rechtsgutachten stützt das Berliner Neutralitätsgesetz

Eines ist nach dem am Donnerstag veröffentlichten Rechtsgutachten klar: Beim Neutralitätsgesetz geht es nicht um alle Religionen, auch wenn Politiker das immer betonen – es geht um den Islam. Die Behauptung, dass es diese eine Religion ist, die aufgrund ihrer „Religionskultur“ an Schulen für Konflikte sorgt, ist ein wesentlicher Strang der Argumentation. Ein nicht unerheblicher Anteil der Muslime sei in der Vorstellung verhaftet, die Frau sei dem Mann untergeordnet und Frauen und Mädchen müssten sich bedecken. Zudem: Jeder Muslim sei in der Pflicht, diese Vorstellungen auch bei anderen Glaubensgenossen durchzusetzen.

Ob diesen Ideen wirklich ein Drittel der Berliner Muslime anhängt, sei dahingestellt. In der Tat ist dies einer der Schwachpunkte des Gutachtens, das sich beim Exkurs in die islamische Vorstellungswelt vorwiegend auf eine weltweite Studie, durchgeführt allein in islamischen Ländern, verlässt. Der grundsätzliche Befund aber stimmt. So gut wie jeder, der ein Kind an einer Berliner Schule hat, weiß: Es gibt dort nicht wenige Konflikte, die von muslimischen Kindern und Jugendlichen ausgehen – was nicht heißt, dass es dort nicht auch andere Konflikte gibt.

Aber die Geschichten von Hänseleien bis zum Mobbing, weil andere (säkulare) Muslime Wurst essen oder Gummibären oder kein Kopftuch tragen: Es gibt sie. An der Kreuzberger Schule meines Sohnes hörten wir sie schon in der ersten Klasse. Offen gesagt bin ich daher froh, dass es wenigstens keine LehrerInnen gibt, die einem intoleranten Glauben anhängen.

Natürlich muss es nicht sein, dass alle Frauen mit Kopftuch so glauben. Aber das Kopftuch – für mich als im Zeichen der Aufklärung erzogene Kartoffel ein Symbol von Markierung und Unterwerfung – ist dafür ein starkes Indiz. Und wenn der Glaube einer Lehrerin so stark ist, dass sie nicht einmal für ein paar Stunden ihr Bekenntnis beiseite legen kann, habe ich Zweifel an ihrer Unparteilichkeit und Urteilskraft.

So bleibt nur zu hoffen, dass das Neutralitätsgesetz in naher Zukunft höchstrichterlich bestätigt wird. Gleichzeitig ist klar, dass es keine Lösung bietet für die Konflikte rund um Religion an Schulen. Natürlich bringen die Kinder das mit, was in den Familien, im Fernsehen, in der Welt passiert. So auch den innerislamischen Kulturkampf um Deutungshoheit zwischen Liberalen und Orthodoxen, der sich weltweit immer mehr zuzuspitzen scheint.

Leider lässt der Senat die klare politische Haltung, die er – oder zumindest ein Teil der Regierung – beim Neutralitätsgesetz zeigt, in anderer Hinsicht vermissen. So ist es das völlig falsche Zeichen, dass der Regierende Bürgermeister am Freitag seinen Amtskollegen aus Teheran empfing: einen Repräsentanten des Mullah-Regimes, das Frauen, die das Kopftuch ablegen, zuhauf ins Gefängnis wirft. Das ist ein Schlag ins Gesicht all jener, die sich für einen liberalen und weltoffenen Islam einsetzen. Susanne Memarnia