In einer fremdvertrauten Welt

FAKTEN FIKTIONEN Daniela Dröscher veranstaltet eine Feier des Fabulierens mitten im Zeitalter der Aufklärung – „Die Lichter des George Psalmanazar“

VON NATASCHA FREUNDEL

Mit dem Meer ist er vertrauter als mit Menschen. Fische fängt er mit der Hand. Er isst sie roh, gern vergammelt, mit viel Salz. Er verträgt keine Sonne, er tanzt Buchstaben. Wer war George Psalmanazar? Diese Frage, sagt die 32-jährige Daniela Dröscher, finde sie beinahe unverschämt. Nicht die historische Wahrheit dieses Hochstaplers aus dem 18. Jahrhundert interessiert sie in ihrem Debütroman, sondern das literarische Spiel mit den dürren Fakten, die Möglichkeit, sie nach Lust und Laune auszudeuten und zum Klingen zu bringen.

In einer Fußnote soll die Berliner Autorin zum ersten Mal auf ihre Hauptfigur gestoßen sein. Daniela Dröscher ist promovierte Medienwissenschaftlerin; sie gibt zudem die deutsch-französische Literaturzeitschrift La mer gelée heraus. George Psalmanazar, der Name faszinierte sie. Wahrscheinlich wurde der Mann 1679 in Frankreich geboren, um 1700 machte er von sich reden, da er behauptete, von der Insel Formosa – dem heutigen Taiwan – zu stammen. Dass Jesuiten ihn aus seinem Inselparadies entführten, glaubten ihm viele. 1704 erschien in England Psalmanazars Bestseller „An Historical and Geographical Description of Formosa“, welcher ihm gar eine Berufung nach Oxford bescherte.

Dröscher stellt sich diesen Menschen als Halbwüchsigen vor, als ewig adoleszenten Träumer. Sie lässt ihn in einem schottischen Küstendorf auftauchen, wo er direkt aus dem Meer auf den Markt gesprungen zu sein scheint. Der Bischof von Innes nimmt den „Fischmann“ mit – „Wilde waren gerade groß in Mode“ – und schafft ihn nach einigen erzieherischen Maßnahmen nach London.

Hier bringt Dröscher ihren Formosen im Haus des englischen Autors Samuel Johnson unter. Historisch gesehen wurde der als Dr. Johnson seinerzeit hoch verehrte Gelehrte dreißig Jahre nach Psalmanazar geboren. Sei’s drum. In diesem Roman ist der fabulierende Möchtegernformose geschätzte dreißig Jahre jünger als Johnson. So jubelt Daniela Dröscher dem Verfasser des berühmten „Dictionary of the English Language“ Johnson das Fußnotenirrlicht Psalmanazar unter. Dabei ist der Sprach- und Literaturexperte ein unzivilisierter, uninspirierter Aufschneider, und der angeblich Wilde ist der kreative Schöngeist.

Wilde waren groß in Mode

Johnson blättert brummend in seinem geliebten Shakespeare herum, Psalmanazar hockt schlaflos in der Küche und erdichtet das formosische Alphabet. Diese Fantasiesprache ist sein As, mit dem er sogar die aggressivsten Skeptiker zum Schweigen bringen kann.

Klingt überdreht? Ist es auch. Daniela Dröscher veranstaltet eine Feier des Fabulierens, eine Feier der Sprache mitten im Zeitalter der Aufklärung. Dass man sich von der Autorin in diese fremdvertraute Welt ohne Widerwillen entführen lässt, liegt an ihrem Erzähltalent. Da verwandeln sich Finger in „stockende Zitteraale“, da wird eine „fliederfarbene Melodie“ angestimmt, immer wieder „pispern“ Worte. Man sieht diesen Dr. Johnson direkt vor sich, wie er bei einem seiner Verjüngungsexperimente einen Blutaustausch zwischen dem schwarzen Sklaven Francis Barber und dem Kater Hodge zelebriert. In dieser lächerlichen und gefährlichen Umgebung, die ferne Inseln genauso erkunden will wie den menschlichen Körper, rettet den empfindsamen Psalmanazar nur die Liebe.

Lange wissen die traumwandlerische Lucy, Tochter des Dr. Johnson, und George, der falsche Formose, nicht aufeinander zuzugehen. Dabei löst seine Fantasiesprache in niemandem solche Vibrationen aus wie in Lucy. Als George ihr im Park endlich unter die Röcke greift, wird das finstere London, in dem gerade die ersten Laternen leuchten, zum „Zuckerwürfel, auf dem sich spazieren ließ“. Doch Psalmanazars Enttarnung lässt nicht lange auf sich warten. Die ganze verrückte Sippe inklusive Kater muss vor dem wütenden Mob fliehen und sticht in See: „Die Perücken waren lange schon ins Meer gesegelt.“ Die Reise führt vielleicht zu irgendeiner fernen Insel, vielleicht kehrt sie zurück in einen Nachmittagstraum der Autorin, die eine Fußnote in eine bezaubernde Saga verwandelt hat.

Daniela Dröscher: „Die Lichter des George Psalmanazar“. Berlin, Berlin 2009, 363 Seiten, 19,90 Euro