Enttäuschte Hoffnungen

ROMAN 1928 reiste der britische Schriftsteller Stephen Spender nach Hamburg und lernte dort die schwule Szene kennen. Sein Roman erschien erst 1986

Spenders Buch zeigt die Zerrissenheit seiner deutschen Altersgenossen auf

Virginia Woolf riet von einer Veröffentlichung ab. Man solle vor dem 30. Lebensjahr keinen Roman herausbringen, sagte sie ihrem jungen Kollegen Stephen Spender, als dieser ihr 1928 das erste Manuskript zu „Der Tempel“ vorlegte. Darin schildert der Schriftsteller zwei Reisen seines Alter Egos Paul Schoner ins Deutschland der Weimarer Republik. Spender huldigt nicht den vermeintlich goldenen Zwanzigern. Er zeichnet das Bild einer Generation, die durch den Ersten Weltkrieg traumatisiert ist und nach Orientierung und Freiheit sucht – auch sexueller.

Dabei geht Spender mit seinen Figuren so feinfühlig wie gnadenlos um. Dies dürfte auch dem Umstand geschuldet sein, dass der Roman erst 1986 fertig wurde, im Wissen um die historischen Geschehnisse der Nazizeit, die sich beim Verfassen der ersten Skizzen allenfalls ahnen ließen. Der Frische und Eindringlichkeit des Werkes hat sein langes Schubladendasein nicht geschadet; es ist auch heute noch ein berührendes Zeitdokument.

Der junge Student und angehende Schriftsteller Paul wird Ende der 20er-Jahre von einem Bekannten in dessen großbürgerliches Elternhaus nach Hamburg eingeladen und befindet sich schnell in illustrer Gesellschaft: Hinter den Protagonisten des Romans lassen sich unter anderem der Hamburger Künstler Herbert List, ein Pionier der Männerfotografie, sowie der Schriftsteller Christopher Isherwood identifizieren.

Isherwoods „Berlin Stories“, eine der Vorlagen zum Broadway-Musical „Cabaret“, erschienen damals in einer Bühnenfassung unter dem programmatischen Titel „I Am A Camera“. Er steht für eine Haltung, die auch Spender einnimmt: Stets mittendrin im Geschehen, gleichwohl unbeteiligt, lediglich beobachtend; Chronisten einer Zwischenkriegszeit, in der homosexuelles Leben der Kriminalisierung durch den Paragraphen 175 unterworfen war und dennoch eine blühende Subkultur hervorbrachte – auch in Hamburg.

Rund 30 einschlägige Kneipen lassen sich heute für die Jahre der Weimarer Zeit zwischen St. Pauli und St. Georg nachweisen. Das Wissen um ihre Existenz stammt nicht zuletzt aus den Akten der Kriminalpolizei. Der Roman schildert diese subkulturelle Szene, etwa wenn Spender einen Besuch im Café „Zu den drei Sternen“ beschreibt, das tatsächlich existierte und am Rande der Neustadt lag: „Es hatte die Atmosphäre eines trüben Gemeindesaals. Auf einer Bühne spielte eine Band aus unbegabten Musikern Jazz. Einige Paare tanzten vergnügt. Absonderliche junge Männer in Frauenkleidung gingen augenrollend von Tisch zu Tisch, tätschelten Männer unter dem Kinn und riefen ihnen aufreizende Schlüpfrigkeiten zu. [...] Junge Arbeiter mit Schirmmützen und ein paar Seeleute lehnten an der Wand oder unterhielten sich im Stehen in der Nähe der Musiker. Etwas seltsam Feierliches umgab sie, als bewegten sie sich an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit.“

Spenders Buch zeigt die Zerrissenheit seiner deutschen Altersgenossen auf: von Aufbruchstimmung gepackt, von Selbstzweifeln geplagt. Dies manifestiert sich vor allem in der Figur des Joachim, hinter der sich der Fotograf Herbert List verbirgt. Joachim fotografiert mit künstlerischem Anspruch, will aber kein Künstler sein, er liebt Männer, die ihn langweilen und weint einem Freund selbst dann noch nach, als dieser sich zum brutalen Nazi entwickelt.

„Der Tempel“ ist mehr als ein Stück schwuler Hamburger Literaturgeschichte. Es ist das lebendige Portrait einer Zeit enttäuschter Hoffnungen und Sehnsüchte, aufgezeichnet aus der distanzierten Perspektive eines Intellektuellen, über den Klaus Mann urteilte, er sei gleichermaßen aggressiv und verschwärmt, ein militanter Träumer und aktivistischer Poet. Nachdem die deutsche Übersetzung lange vergriffen war, liegt jetzt die überarbeitete Neuauflage vor: ein Glücksfall! STEFAN MIELCHEN

Stephen Spender: „Der Tempel“. Aus dem Englischen von Sylvia List-Beisler. 304 Seiten, 19 Euro