1A-Christothek-Geschmuse

Auch wenn The Polyphonic Spree sich im glücklichen Zeichenhaushalt von Hippie- und Jesuskitsch tummeln – am Montag zeigte die 21-köpfige Band aus Texas, was sie eigentlich macht: Hardcore

VON HARALD FRICKE

Inszenierung ist alles. Auf ihrem Weg zur Bühne fassen sich The Polyphonic Spree an den Händen und schieben sich in ihren himmelblauen Kutten wie bei einer Prozession durch das Publikum im Magnet Club. Der Joe, die Audrey, Ricky, Evan und all die anderen Chorsänger, Gitarristinnen, Harfenzupfer, Trommler und Trompeter. Nur ein leicht verschlafener Hippie mit engelshafter Lockenmähne kommt zwei, drei Schritte zu spät, wird von seinem Kollegen am Theremin umarmt, bevor er sich in der Mitte am Mikrofon aufgebaut hat. Schließlich gilt der 39-jährige Tim DeLaughter als Chef der aus Texas stammenden Gruppe. Jetzt füllen 21 winkende Bandmitglieder die kaum sofaeckengroße Bühne bis in den letzten Winkel aus. Keine drei Minuten danach wirbeln ihre Körper ekstatisch zu orchestralen Sixties-Melodien, die zu Obertonsirren und Gitarrenfeedback anschwellen. Das ist kein Beatles-Zucker, das ist Hardcore.

Vor allem aber ist es ein großes Glück, dass The Polyphonic Spree überhaupt da oben sind. Der Vorverkauf war ein Desaster, nach ihrem Auftritt beim Haldern-Pop-Festival wurden die anderen Konzerte in Frankfurt und Hamburg abgesagt. Nur Berlin hat sich inzwischen offenbar zu einem dermaßen wichtigen Medientreffpunkt rausgeputzt, dass die deutsche Plattenfirma den Gig wenigstens als Promotion für Presse, Funk und Fernsehen nutzen wollte. Zusätzlich konnte man Tickets auf dem Radiosender Motor FM gewinnen, entsprechend war es doch fast voll.

Dabei ist die kommunenähnliche Sippschaft in den USA, England und Japan längst in den Charts angekommen. David Bowie mag sie und Jim Carrey auch. Ihr „Light & Day“ läuft als Erkennungsmelodie in VW- und iPod-Commercials, im People‘s Magazine wurde Sänger Tim DeLaughter unter die „25 sexiest men alive“ gewählt; gleichwohl haben The Polyphonic Spree letztes Jahr bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an die kenianische Umweltministerin Wangari Maathai in Oslo gespielt.

Einiges von ihrem Ruf als musikalisches Aufmunterungskollektiv beruht dennoch auf Legenden. 1999 starb der Gitarrist von DeLaughters früherer Indieband Tripping Daisy an einer Überdosis Heroin. Danach wollte der Sänger nicht mehr weitermachen wie bisher, wollte ein positives Signal setzen in dem auf Dauer doch recht trostlosen Gewerbe aus Sex & Drugs & Rock’n’Roll. Das war die Geburtsstunde von The Polyphonic Spree: Ein unaufhörlicher Reigen aus Glücksbotschaften, die in wunderhübsch psychedelisch geschwungenen Liedern um die Wette tanzen.

„Lebe das Leben, dass du für dich gewählt hast“, heißt es dann in den Texten von DeLaughter. Freunde, bewegt euch Richtung Sonne, hallelujah! Das klingt zehnstimmig im Chor gesungen schwer nach „Jesus Christ Superstar“, „Godspell“ und ähnlichem Christothek-Geschmuse aus den Siebzigerjahren. Doch man darf sich nicht täuschen lassen: Religion ist bei The Polyphonic Spree nur die Oberfläche, eine Rolle, in die die Band geschlüpft ist, um sich ein bisschen mediale Aufmerksamkeit zu sichern. Selbst die Roben sind nur Beiwerk, ein Trick, um die Menge der Musiker wenigstens visuell als Einheit erscheinen zu lassen. Es ist ein Spiel mit Zeichen – wie bei jedem guten Pop.

Dazu kommt eine atemberaubende Sicherheit im Umgang mit Zitaten aus der Musikgeschichte: Ein Waldhorn-Crescendo, wie man es aus „Tommy“ von The Who kennt, ordnet sich in einen Bläsersatz ein, der gut auch auf eine smoothe Isaac-Hayes-Produktion gepasst hätte. Musical, Gospel, Drone-Minimalismus und Flower-Power-Ornament – irgendwann ist die Quellenforschung für den Sound der Polyphonic Spree ohnehin egal.

Tim DeLaughter rudert mit den Armen, und die Musik schraubt sich einfach etwas mehr und tiefer fiepend ins Ohr. Plötzlich fällt in einem Stück gegen Ende die Zeile, auf die es ankommt: „You gotta be at two thousand places at once.“ Die Musik vonThe Polyphonic Spree versucht das, im Kopf von DeLaughter scheint das schon zu klappen: Als zum Schluss des Konzerts auf der Bühne eine letzte kurze Noise-Orgie ausbricht, lächelt er mit geschlossenen Augen still in sich hinein. Es ist die Ruhe mitten im Sturm.