HERREN ALS KNECHTE, GLÜCK UND UNGLÜCK IN DER S-BAHN
: Von Friedrich und Wilhelm über Adolf zu Erich

VON ULRICH GUTMAIR

Die Türen der S-Bahn stehen weit offen, der Zugführer spricht mit einer Frau, die in einem vierrädrigen Mobil sitzt. Sie will wohl noch nicht raus, oder doch schon raus, zu verstehen ist es nicht. Wir warten am zweitheißesten Tag des Jahres mit unsren Rädern darauf, dass diese Bahn abfährt, damit unsere einfahren kann. Stattdessen rauscht der Führer des Reichsbahnzuges auf uns zu. Erst kurz vor der Kollision spuckt er seinen Satz aus: „Jetzt wolln wa ma feststellen, wem die Fahrräder gehören.“

Warum er wissen will, wem die Fahrräder gehören, wenn er genau sieht, wen er ansprechen kann, frage ich ihn. Er wolle wissen, wer so rücksichtslos sei, ihm den Weg zu versperren und somit einer behinderten Person ihr Recht auf Mobilität zu verweigern, antwortet er. „Sieht man doch, was hier los ist!“ Der perfide Kerl hat seine Rede generalstabsmäßig an diesen Punkt geführt, um uns der sittlichen Verkommenheit bezichtigen zu können. Denn hinter uns hängt, von uns bisher unbemerkt, die aufklappbare Rampe, die es gehandicapten Personen erlaubt, in Waggons rein und wieder raus zu fahren.

Ich bin nur selten klug genug, auf Unverschämtheiten, die sich als Frage tarnen, nicht zu antworten. Die kleinbürgerliche Erziehung zur Höflichkeit, die ich in Westdeutschland genossen habe, bringt einen an zivilisierten Orten weiter. In Berlin gewöhnt man sich den Quatsch am besten gleich ab. Seit dreihundert Jahren oszilliert die Stadtgesellschaft zwischen Totalitarismus und Toleranz, tiefe Provinzialität wird von regem Kosmopolitanismus herausgefordert. Das bringt die schwerfälligeren Teile des Kleinbürgertums aber nicht aus dem Konzept. Sie orientieren sich feste an einem Sound, der sich von Friedrich und Wilhelm über Adolf zu Erich nur unwesentlich verändert hat.

Unsere Bahn ist so voll, dass wir mit Müh und Not uns und die Fahrräder hineinquetschen können, was bei der dort herrschenden Temperatur einigermaßen anstrengend ist. Im Gegensatz zu den Charakterpanzern der Reichsbahn verhalten sich ihre Fahrgäste aber wie Menschen. Man versucht mit dem engen Raum zurechtzukommen. Ein Mann hebt unaufgefordert meine Tochter über die Räder, damit sie sich hinsetzen kann.

200.000 Flugkilometer

In Westberlin steigen zwei Männer in kurzen Hosen Anfang dreißig zu. Der eine ist groß, der andere klein. Der Große spricht laut und deutlich, der Kleine hält sich zurück. Man kann nur aus den langen Monologen des Großen auf die kurzen Einwürfe des Kleinen schließen.

Sie diskutieren über den aktuellen Stand der Weltlage, wobei der Große die Mythen dekonstruiert, die über das süße Leben der herrschenden Klasse kursieren. Die Preise von Produkten des täglichen Gebrauchs seien in den letzten Jahrzehnten zwar einer moderaten Preissteigerung unterworfen gewesen, sagt er. Luxusgüter wie etwa ein Mercedes der S-Klasse oder Immobilien in guter Lage dagegen hätten sich in derselben Zeitspanne um das Vielfache verteuert. Während die Kosten für betriebliche Ausbildung in relativ geringem Maß gestiegen seien, rechne man heute für jedes Kind, das die Hochschulreife erlange, mit Gesamtkosten von 200.000 Euro. Und wo es früher ausreichend gewesen sei, Sohn oder Schwiegersohn zu sein, müssten heutige Manager nicht nur fünf Sprachen sprechen, sondern auch Jura und Betriebswirtschaft studiert haben. Außerdem setzten sie sich einem deutlich erhöhten Gesundheitsrisiko aus.

Der Kleine gibt einen leisen Kommentar ab, der vom Lärm der Bahn geschluckt wird. Der Große erwidert, bei 200.000 Flugkilometern im Jahr und einer durchschnittlichen Schlafdauer von vier bis fünf Stunden greife auch bessere Prophylaxe nicht mehr. Da komme man auch mit regenerativen Maßnahmen immer schon zu spät. Jetzt macht der Kleine einen anscheinend grundsätzlichen Einwand geltend. Denn der Große doziert geduldig, dass eine politische Ordnung, die das menschliche Glück zur basalen Kategorie erkläre, eine tendenziell totalitäre sei. Glück, sagt er, sei immer nur individuell erfahrbar.

Abends fällt tropischer Regen, die Welt dampft vor sich hin. Ich puste Rauch aus dem Fenster, sinne den Dialogen des Nachmittags nach und komme zum Schluss: Mit dem Leben ist es wie mit der S-Bahn. Glück und Unglück liegen nah beieinander. Am Ende kommt’s immer auf die Haltung an. Unten auf der Straße radelt langsam eine rotgelockte Fee im weißen Kleid ins Bild. Eile hat für sie keinen Sinn mehr. Sie ist schon ganz nass.