Überspannt, so schön

Jens Bisky hat ein ungewöhnliches wie anregendes Buch über Berlin geschrieben, wie nur ein von dieser Stadt kritisch begeisterter Kopf es zu schreiben vermag

Wie arg es schon immer um diese Stadt bestellt war: Fußgänger beim Überqueren der Straße, „Berliner Tempo 1926“ Foto: akg images

Von Hanns Zischler

Jens Bisky verfügt über ein stupendes Wissen, eine unversiegbare Neugier und einen hinreißend nüchternen Stil, diesem polyzentrischen Gebilde Berlin mit schwankender Bodenhaftung eine wunderbar lesbare Biografie abzutrotzen.

Gleich zu Beginn benennt er seine Grundhaltung, der für Berlin typischen „Überspannung aller Kräfte … mit sympathisierender Neugier“ zu begegnen. Jenseits der gern pauschal angemahnten Traditionsdefizite der modernen Stadt will Bisky herausfinden, wo Verheißungen und überraschender Lustgewinn, also das „Berlinische“ Berlins spürbar werden. „Zweifelnde Überlegenheit“ attestierte die große, von den Nazis ermordete Berliner Sprachwissenschaftlerin Agathe Lasch (1879–1942) dem Berliner.

Mit seiner eigensinnigen Suche nach verborgenen Vektoren schlägt Bisky schon in seiner Einleitung den besonderen Ton urbaner Überspanntheit an, den er bis zum Ende in mannigfacher Weise variieren und durchhalten wird. Kunsthistoriker, Philologe und Feuilletonist vereinen sich in seiner Person auf glückliche Weise.

Es sind nicht nur überraschende Entdeckungen, welche die Lektüre an die Trense nehmen, es ist auch Biskys Lust, mit eigenen „strong opinions“ (Nabokov), nicht hinterm Berg zu halten. So wird schon im Titel „Ein renitenter Liedermacher“ über den obstinaten Lutheraner und Anti-Calvinisten Paul Gerhardt aus dem 17. Jahrhundert ein unerwarteter Bogen zu Wolf Biermann gespannt. Beide löcken, sehr berlinisch, wider den Stachel der Obrigkeit. In Biskys Galerie des 17. und 18. Jahrhunderts versammeln sich scharf gezeichnete Miniaturen – Nicolai, Lessing, Mendelssohn, Fasch, Moritz … zu einem großen Tableau. Es ist der lange Augenblick, in dem Berlin sich zum Zentrum der europäischen Aufklärung aufschwingt, mit Hilfe und Friedrich II. zum Trotz.

Aus dem zur Residenz sich verdichtenden, von großer Baukunst getragenen Berlin ragt der Chor unerschrockener Geister heraus. Bisky ruft uns den empörten Moses Mendelssohn ins Gedächtnis, der seinen Zensor wissen lässt: „Wenn ich mit Christen Kegel spiele, so werfe ich alle neune, wenn ich kann.“ Das ist der Widerspruchsgeist, der in dieser Stadt nicht versiegen will. Zur Haltung der Obrigkeit gegenüber den Juden heißt es bei Bisky lapidar: „Wurden sie toleriert? Die Berliner Juden blieben geduldet, weil man sie diskriminieren konnte, mit immer neuen Abgaben, Zahlungen, Schikanen und weil man sich von ihren Handelsbeziehungen Gewinn versprach.“

Und als Anfang des 19. Jahrhunderts nach Napoleons Oktroy über Preußen ein reaktionärer Geist und antisemitische Tiraden im adligen und bürgerliche Milieu zum guten Ton werden, erinnert Bisky an den beherzten Aufklärer Saul Ascher, der den Judenfeinden entgegenhält, er hoffe, die „kindische Schwatzhaftigkeit einer faselnden Mystik“ werde sich „nie mit dem Berlinismus amalgamiren lassen“.

Berlinische ­Selbstüberforderung

Der erkenntnishaltige Gewinn dieses Buches besteht darin, dass wir sehr klar die Übergänge von der Handels- zur Residenz- und schließlich zur Industriestadt im Gang durch ihre kulturellen Manifestationen – die Baukunst, das Theater, die Literatur, die Presse – verfolgen können und dabei wie auf wechselnden Bühnenbildern die politischen und sozialen Fortschritte, Verwerfungen und Krisen (bis hin zur Katastrophe der NS-Zeit) näher rücken, welche diese Entwicklung begleiten.

Zur Eigentümlichkeit der großen Stadt gehört es, dass der Bewohner „hinaus“ will. Diesen Bewegungsdrang spürt Bisky in dem wunderbaren Film „Menschen am Sonntag (von Siodmak und Wilder) aus dem Jahr 1929 auf und findet zu unserer Überraschung einen Vorläufer in Friedrich Nicolais Großstadtroman „Leben und Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker“, wo das größte Vergnügen der „ungehorsamen Weltkinder“, vulgo Berliner, darin besteht, sich den nicht selbstverständlichen, unbeschwerten Sonntagspaziergang der pietistischen Obrigkeit abzutrotzen.

Die spezifisch berlinische Selbstüberforderung findet sich in der Gestalt des nach residenziellen Monumentalbauten gierenden Kurfürsten Friedrich III., der Andreas Schlüter für Zeughaus und Schloss verpflichtete. Für Bisky ist er ein Herrscher, der „Baustellen sammelte“, ohne deren Vollendung zu erleben. Weh dem, der hier Böses denkt.

Jens Bisky: „Berlin. Biographie einer großen Stadt“. Rowohlt Berlin 2019, 976 Seiten, 38 Euro

Von industriegeschichtlicher Monumentalität ist das Berliner Miethaus, wie es Geist/Kürvers in ihrem nicht minder monumentalen einschüchternden dreibändigen Handbuch „Das Berliner Mietshaus“ erforscht haben – Bisky macht es mit dem Fleiß des Exzerpisten für uns zugänglich und lesbar: es ist eine Fundgrube nicht nur der Bau- und der Sozialgeschichte. Seine Biographie liefert en passant einen Leitfaden.

Im Falle Schlüters zeichnet Bisky eine ergreifende Traditionslinie nach, der zufolge bestimmte, unverrückbar geglaubte Intentionen sich hinter dem Rücken der königlichen Auftraggeber in ihr Gegenteil verkehren. Schlüter hatte eine den Siegeswillen der Herrscher verklärende Serie von Köpfen sterbender Krieger angefertigt. Diese Masken verkehrten den Triumph in schieres Mitleid. „Auch wenn man sich vor sympathisch pazifistischen Deutungen hüten muss“, schreibt Bisky, „sind Schlüters ‚Sterbende Krieger‘ nicht zu Unrecht so oft zum Gegenstück des martialischen Zeughausprunks erhoben worden.“ Für Friedrich Nicolai verwandelten diese Masken den „prächtigen Pallast in ein Haus des Todes“, und wiederum fast hundert Jahre später lesen wir bei dem umtriebigen Menzel nach seiner Rückkehr von einem Schlachtfeld: „Woher Schlüter seine Zeughausmasken hat, weiß ich jetzt auch.“

Feier des Unfertigen

Zu dem eingangs erwähnten Typus (oder auch Gestus) der Überanstrengung bzw. der willentlichen Selbstüberforderung entwickelt Bisky eine souveräne Studie des Parvenüs. Er wandert wie ein Menetekel des unfertigen, ewig provisorischen Berlin am Ende des 19. Jahrhunderts durch die Literatur und die Gazetten. Bisky dreht den Spieß um und ­gewinnt diesem gern geschmähten Aufsteiger durchaus positive Seiten ab. So ist der Parvenü für Walther Rathenau der „selfmade-man“; in einem Conversationslexikon aus den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. firmiert er noch als „Glückspilz“…

Diese Umwertung oder auch Neubewertung ist es, die Bisky ganz besonders interessiert: „Das Unfertige war ein Signum der Epoche, und die Zeitgenossen konnten ahnen, aber nicht wissen, dass dies auch für die Ära ihrer Enkel und Urenkel gelten würde.“ So gesehen ist der Parvenü eine weitere und eben auch geglückte Verkörperung des „Berlinismus“, wie Ascher ihn favorisiert.

Zu den aufregendsten Passagen des Buches gehören die dramatischen Schilderungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und dessen, was Bisky in dem einprägsamen Bild des „zerschnittenen Berlin“, d. h. des Mauerbaus und der grotesken und tragischen Folgen für Ost- und Westberlin festhält. Selten wurde die tatsächliche und noch bis heute topografisch spürbare Zerstückelung des Stadtkörpers derart drastisch vor Augen geführt – insbesondere durch den fast schizophren zu nennenden Umstand, dass der Berliner in dem Maße, wie er lokal agierte, gleichzeitig und in einer ihn überfordernden Weise weltpolitisch aufzutreten hatte.

Bisky erinnert in diesem Zusammenhang an die außerordentlich bedrohliche Lage, als infolge des Ungarnaufstandes eine große Menge vor das Sowjetische Ehrenmal zog und es allein Willy Brandts politisch- dramaturgischen Geschick zu verdanken war, dass der Marsch zu dem sehr unspektakulären Denkmal der „Opfer des Stalinismus“ am Steinplatz umgelenkt wurde.

Das ist der Wider-spruchsgeist, der in dieser Stadt nicht versiegen will

Den Architekten Henselmann nennt Bisky „den Schinkel Ulbrichts“. Henselmann verdanken wir unter anderem das großartige „Haus des Lehrers“ und das ebenso elegante wie höchst funktionale „Kongresszentrum“ am Alexanderplatz; und auch den durchaus weltstädtischen Boulevard der Stalinallee, womit Ostberlin verwöhnt, aber die restliche DDR auf ruinöse Zwangsdiät gesetzt wurde. Dieses Bild versteht man besser, wenn man die Leistung rekapituliert, die Bisky in der von ihm als „Schinkelzeit“ apostrophierten Epoche erkennt: „Schinkels preußisches Gesamtdesign war der ästhetische Ausdruck eines Vergangenen, aber noch nicht Abgetanen: der gemeinsamen Orientierung von bürgerlichen und aristokratischen Eliten an Reformen zum Besten des Gemeinwesens. Es entstand, als der Monarch und seine Entourage diese Gemeinsamkeit aufgekündigt hatten. Schinkels Bauten in der Mitte der Stadt konfrontierten die königliche Residenz mit einem liberal-romantischen Bild von Gesellschaft.“

Besonders eindrucksvoll ist das Kapitel „Ein neues Berlin“ 1918–1933, in dem der Aufbruch und ein gemeinschaftlicher behördlich-politischer Wille, die Lage der mehrheitlich ärmeren Schichten zu verbessern und das einmal Erreichte zu verstetigen, manifest wurde. Der reformerische Elan schien damals ungebrochen. Bisky lässt den ebenso polemischen wie enthusiastisch-neugierigen Breslauer Alfred Kerr – ein Berlin-Afficionado der ersten Stunde – zu Wort kommen, der dem großen Regisseur Leopold Jessner beispringt, als dessen Inszenierungen als „jüdischer Schwindel“ denunziert werden: „Solche Fülle, solche Blüte (trotz jeder triftigen Einwendung)“ – schreibt Kerr – „das gab es nicht in Europa, noch in Amerika. Berlin: Weltzentrum. – Ja, was wird, alles in allem, dieser Abschnitt einstens doch gewesen sein? Es gibt keinen Zweifel: – Das (im Ernst gesprochen) perikleische Zeitalter der Republik.“

Es ist so vieles

Biskys Biografie beschenkt uns mit einer ebenso langen wie anregenden Lese- und Entdeckungsreise. Es ist ermutigend, in Zeiten von Sushi-Lektüren in ein Buch einzutauchen, das mit kühnem gärtnerischen Schnitt uns ein anregend renitentes Berlin entdecken lässt.

Dem Schriftsteller und Journalisten Ernst Dronke – einem Mann der 1848er-Revolution, dessen Schriften kürzlich wieder aufgelegt wurden – verdanken wir einen Satz über das Berlin des Vormärz, der aus der Feder von James Joyce stammen könnte. Im Streit darüber, wie arg es um Berlin bestellt sei und ein schriller Chor die Stadt als „Herd der Reaktion“, „Stadt des Preußentums“, „Sündenpfuhl der Demoralisation“, „Pflanzschule des Pietismus“ usw. beschrie, findet Dronke die unüberbietbare Formel: „Es ist – es ist ­– es ist – Ja, es ist vieles, es ist die große Stadt.“