Der Wind zeichnet mit

SOMMERWERKSTATT Einmal im Jahr bespielen die Künstlerinnen der Gruppe Endmoräne altes Gemäuer und schneidern verfallenen Häusern auf dem Land temporäre Kunst auf den Leib. Diesmal im Gutshof Heinersdorf

Der Arbeit lässt sich stets das Potenzial zu einer Verwandlung abgewinnen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Ach, ach, ach, ach, ach, ach. Es ist eine lange Litanei, die Christiane Wartenberg Zeile für Zeile mit weißer Schrift auf schwarze Spargelfolie oder mit Buttermilch auf die Fensterscheiben des Gutshaus Heinersdorf geschrieben hat. Ach, ach, ach, das arme Haus, möchte man in ihre Litanei einstimmen, von Zimmer zu Zimmer über herausgerissene Fußböden steigend, an Sand- und Schuttbergen vorbei und an Gerüsten, die die Decken stützen. Der Schwamm hat das Haus in seiner Hand. An den Putten neben den Öfen, an schwebenden Engeln unter der Decke, an Stuckrosetten und eingebauten Schränken sieht man noch, dass dies einmal ein reiches Gutshaus war, im 19. Jahrhundert. Wenig nur verweist auf die letzte Nutzung in der Zeit der DDR als Kinderheim und Kinderkrippe, wie etwa die niedlichen Tiere am Geländer der Terrasse.

Seit mehr als 20 Jahren bearbeitet Endmoräne, ein Kollektiv von Künstlerinnen aus Brandenburg und Berlin, solche armen Häuser, die leer stehen meist aus Mangel an Mitteln für die aufwendige Restaurierung, vom Denkmalschutz überwacht ob ihrer historischen Substanz aber kaum vor weiterem Verfall geschützt. Sie belasten ihre Eigentümer, in diesem Fall die Gemeinde Steinhöfel, wie ein schlechtes Gewissen. Man müsste ja eigentlich …, theoretisch ein Schatz …, aber wer will hier schon investieren, im Randgebiet nahe der polnischen Grenze? Dass Künstler hier vorübergehend Station machen, es war nach der Wende nicht weiter erstaunlich. Dass aber auch Jahrzehnte danach an heruntergekommenen Schlösschen kein Mangel im Berliner Umland ist und die Künstlerinnen, die Jahr für Jahr ihre Mitteln neu beantragen und bei Sponsoren zusammenkratzen, so lange durchgehalten haben, das hätte man damals nicht vorausgesehen.

Für zwei Wochen mindestens ziehen die Künstlerinnen von Endmoräne für ihre Sommerwerkstatt an den Ort ihrer Ausstellung. Zuvor schon fanden viele Begehungen statt, für Genehmigungen, für das Abfahren des größten Schutts, bis man sich bewegen kann. Gewohnt haben die Künstlerinnen – 19 diesmal, Gäste aus Polen, Rumänien und Ungarn waren dabei – in einem daneben gelegenen Gästehaus, wo sonst viele Bauarbeiter ihre Unterkünfte haben. Zur Annäherung an das Dorf haben sie dieses Jahr während ihrer Werkstatt mal auch viel mit Schulkindern gezeichnet, das sieht man in vielen Räumen des Gutshauses.

Und daran knüpft Susanne Ahner, seit Jahren geübt im behutsamen Umgang mit Fundstücken, gleich an und zeigt in einer Kammer unter dem Dach ausnahmsweise Biografisches, gefunden in ihrem eigenen Leben: „Das Leben im Schloss, wie ich es als Kind gezeichnet habe“. Da wimmelt es nur so von Mädchen mit langen Haaren, langen Röcken und Krönchen, egal ob sie nun tanzen oder einen Kinderwagen schieben.

„LineaRes“, die Linie und das Ding, die Zeichnung auf Papier und im Raum waren das Thema der diesjährigen Sommerwerkstatt. Annette Munk hat zum Beispiel die alten Raufasertapeten eines verwinkelten Zimmers für Frottagen und Fotografien genutzt: Mittels Maßstabssprüngen und Vergrößerungen nimmt das Relief der Tapete das Aussehen verschneiter Berge an, in den engen Raum kommt mittels der bearbeiteten Raufaser Weite, jede Linie erscheint hier als Weg.

Zerbrochene Scheiben

Mit ihrem Zeichentisch zog die Berliner Künstlerin Ka Bomhardt für zwei Wochen in eine ehemalige Dienstbotenkammer unter dem Dach, entfernte Tapeten, nahm die zarten Farben der darunterliegenden Wandanstriche als Motiv, zeichnete sich einen ornamentalen Teppich, eine Hängelampe und einen Spiegel hinzu, hängte erste Bilder auf und zeichnete das sich so langsam verändernde Zimmer wieder. So entstand eine Verflechtung von Vorgefundenem und Hinzugefügtem, der Raum erzählt die Geschichte seiner Umdeutung und Verwandlung.

Mit dem Wind, der durch die zerbrochenen Scheiben des Wintergartens fegt und einen Vorhang bewegt, arbeitete Claudia Busching, mit Kabeln zeichnete Tina Zimmermann in den Raum des Treppenhauses, Gerüste, die die Decke stützen, nahm Ingrid Kerma als Raumzeichnung an, die sie mit Papierstreifen fortschreibt. Der Verfall des Hauses wird so nicht verdeckt oder verklärt, aber ihm lässt sich in diesen Werken doch stets das Potenzial zu einer Verwandlung abgewinnen, zumindest vorübergehend.

Ob mit Bahn und Fahrrad oder dem Auto: Man braucht schon anderthalb bis zwei Stunden nach Heinersdorf. Wer den Kunstausflug am Wochenende macht, vielleicht noch einen Vortrag oder eine Performance besucht, kann anschließend den Weg zum nahen Badesee nehmen.

■ LineaRes, im Gutshaus Heinersdorf, Hauptstr. 36c, 155518 Steinhöfel, geöffnet bis 2. September, Sa. und So. 13–18 Uhr