Käse-Pyramiden im Display-Licht

Kunstwerke in fünf Minuten: Der Künstler Adrian Mudder hat das Smartphone als Arbeitsmittel fürs nächtliche Zeichnen in Kneipen für sich entdeckt. In der städtischen Galerie Delmenhorst zeigt er seine „Pictures from my Pocket“ – und lädt zur Kneipentour mit der Handyapp

Airbrush, feiner Pinsel und Verwisch-Funktion: Mehr braucht Adrian Mudder nicht, um mit der Sketchbook-App zu zeichnen Foto: Adrian Mudder

Aus Delmenhorst Jens Fischer

Als Flaneur urbaner Landschaften bietet ihm das Nachtleben einen unerschöpflichen Fundus von Sujets: die glitzernden Lichteffekte, schummrig glühende Orte sozialer Interaktion, die Comédie humaine der Amüsierwütigen mit den 1.001 Facetten des Spiels zwischen den Geschlechtern. Gerade die beiläufigen Eindrücke und Momentaufnahmen der tagabgewandten Seite des Lebens interessieren Adrian Mudder.

Nicht der neue Henri de Toulouse-Lautrec, kein umherstreifender Bohemien ist er, sondern ein junger Künstler, der nach des Tages Brotjob in einer Galerie und all den Pinselschwüngen daheim nicht Feierabend machen kann, sondern auf Motivakquise geht. Er will einfach nur malen und das eigentlich immer. „Weil das die einzige Tätigkeit ist, bei der ich mich nie langweile“, sagt Mudder. 1986 in Delmenhorst geboren, in Stenum aufgewachsen.

Aus Notwehr gegen die so verhasste Langeweile habe er bei einem Ostseeurlaub mit den Eltern zu zeichnen begonnen und sei später mit dem Opa als Lehrer gern raus in die niedersächsische Steppe gefahren, um Landschaften zu aquarellieren, erzählt der Künstler. So nach und nach verlor er die Lust am logisch-linearen Denken und Handeln, das die Schule vermittelt, und widmete sich ganz der intuitiven Intelligenz künstlerischen Tuns.

Skizzieren, zeichnen, malen als Aneignung von Welt, damit beginnt Mudder bereits während des Morgenradiogeplappers beim ersten Kaffee zur ersten Zigarette, „die ich meist irgendwo geschnorrt habe“, sagt Mudder. Die er dann aber auch gern mal in seinem 50 Quadratmeter großen Leipziger Atelier mit grobem Farbauftrag geradezu plastisch auf einer Leinwand verewigt. Mal kommt eine Kaffeetasse mit aufs Bild oder der Espressokocher, mal Spiegeleier, Melone, Spinne: mal ein abgestandenes Bier im Glas, Feuerzeug, Handy oder trostlose Zimmerpflanzen. Die er auch zu Stillleben verarbeitet.

So an 15 Bildern gleichzeitig arbeite er, sagt Mudder. Er müsse und wolle hin- und herspringen zwischen seinen Werken, also parallel viele ästhetisch mögliche Wege ausprobieren – „so langweile ich mich nicht“. Was wohl auch keinem Besucher seiner vielgestaltigen ersten Einzelausstellung „Pictures from my pocket“ droht, die ihm die Städtische Galerie seiner Heimatstadt spendiert hat.

Die Wintergartenfenster des Hauses klebte Mudder für kirchliche Glaskunsteffekte zu mit Farbmustern auf Werbetafelfolien, sodass bei frühlingssonnigem Lichteinfall ein Hippietraumraum entsteht. Gleich nebenan hat Mudder auf den grundierten und mit Farbkreide getünchten Wänden in freier malerischer Bewegung mit einem Radiergummi florale Muster entstehen lassen, also eine Tapete als Originalkunstwerk. Nach der Finissage wird sie weiß übermalt werden.

In einem weiteren Saal hängt der Künstler eigenes Schaffen neben „Schiffsbug mit Mond“ (2000) und „Abend am Fluss“ (2005), zwei Werke seines Lieblingskünstlers Norbert Schwontkowski.

Dessen Bilder hat Mudder einst in Ausstellungen der Städtischen Galerie kennengelernt. Noch heute ist er fasziniert von der reduzierten, tonigen, nach eigenen Regeln angemischten Farbpalette, die mit meisterhaft herausgearbeiteten Schattierungen und Nuancen den meist perspektivlosen Bildräumen atmosphärische Dichte verleiht, in denen das Poetische im Alltag entdeckt und häufig ins Surreale überführt wird.

Mudder dringt nicht so tief in seine Motive ein, mag es humorvoller, bunter, greller, verspielter, setzt auf Kontraste und schnelle Wirkung. Platziert zwischen die beiden Schwontkowski-Werke etwa „Käsewürfel“, ein Bild mit schmuddelgelben (Käse-)Pyramiden hinter einer Palme.

Auf einem riesigen Tisch gestapelt sind zudem Hunderte klein- wie hochformatiger Zeichnungen zu finden, „von denen deutlich über 3.000 bei mir zu Hause in alten Weinkartons darauf warten, Vorlage für ein Gemälde zu werden“, so Mudder. All diese „Nomadischen Skizzen“ sind datiert und signiert, „eigenständige Kunstwerke“. Weitere Beispiele laufen als Loop über zehn Tablets in einem Gang der Galerie, allesamt Arbeiten, die nicht auf Papier, sondern seit 2017 auf dem Handy entstanden sind mit der kostenlos im Internet verfügbaren App Autodesk Sketchbook.

Ein prima Werkzeug, um beim Umherschweifen das Spontane, die Geste, Lichtreflexe, Bewegungen, eine Stimmung oder Situation schnappschussartig einzufangen, ohne als Voyeur beschimpft zu werden. „Ich kann unbeobachtet beobachten und unverdächtig skizzieren, denn in einer Kneipe denkt niemand, dass ich arbeite, wenn ich auf mein Handy starre.“ Zweiter Vorteil: Auf dem Display braucht es keine extra Lichtquelle zum Arbeiten.

Mudder ist Profi, ratzfatz hat er einen Bildausschnitt aus der Kneipensituation gewählt, die nächtlichen Farben definiert, flächig Figurenkonstellation vorbereitet und Details beim Ranzoomen addiert

Wie das funktioniert, zeigte Mudder in einem Alkohol-basierten Workshop, so Galerieleiterin Annett Reckert. „Bar-Hopping“ war ironisch als eine Bummelei durchs Delmenhorster Nachtleben angekündigt. Der Slam-Poet Joschka Kuty führte die Nachtschwärmer in die schnieke glitzernde Bar des City Hotels, einen Irish Pub und das White Lion.

Es gibt kunterbunte Absacker zur Begrüßung, Bier obendrauf, AC/DC-Riffs fegen durch die Gehörgänge. Die Teilnehmer laden sich die Mal-Software herunter, wischen mit dicken Fingerkuppen fette Striche aufs Display und sind vielfach überfordert angesichts der unendlich scheinenden Möglichkeiten des Programms.

Mudder erläutert seine Kunst der Beschränkung. Er arbeitet nur mit dem Digital-Stift und benutzt ausschließlich drei Werkzeuge: die Airbrush-Pistole, den feinen Pinsel für die Linien und, leider übermäßig, den fürs Verwischen. Mudder ist Profi, ratzfatz hat er einen Bildausschnitt aus der Kneipensitua­tion gewählt, die nächtlichen Farben definiert, flächig Figurenkonstellation vorbereitet und Details beim Ranzoomen addiert. Mehr als fünf Minuten braucht er nicht für seine „Sketches“. Nimmt nebenher schon mal Reservierungen für den Kauf seiner Ausstellungsbilder entgegen. Da geht schon was für 1.000 Euro. Auch die Städtische Galerie will einige Werke der Ausstellung nicht wieder hergeben und verhandelt über Ankäufe.

Das nachtaktive Skizzieren im digitalen Raum könnte das Image sein, mit dem Mudder den Fuß in den Kunstmarkt bekommt. Gerade auch, weil ihm das großformatig analoge Ausarbeiten der Impressionen immer mal wieder reizvoll gelingt – mit dezent karikierendem Strich bei den Gesichtern, leicht fauvistisch abstrahierenden Farbkontrasten und den geradezu explodierenden Lichtern der Laternen, Lampions, Decken- und Werbeleuchten oder des Mondes, die meist mit Acrylfarbe auf Leinwand gesprayt sind und als Sahnehäubchen einen fetten Ölfarbeklecks obendrauf bekommen.

„Party in the House“ heißt so ein Bild, ein schattiges Paar steht mit Fluppe vor einem grell illuminierten Fenster, hinter dem verwischt Disco-Ekstase rumort. Stimmungsvoll, wenn auch nicht sonderlich originell. Den Beweggründen für die Flanerie des Zeichnens fehlt es noch an Deutlichkeit, dem Einsatz der Mittel an Klarheit. Frischere Themensetzungen und eine individuelle Handschrift im Experimentieren mit Formen, Formaten, Materialien und kunstgeschichtlichen Verweisen können aber ja noch folgen, wenn Mudder davon leben kann, wofür er lebt, einfach nur neugierig draufloszumalen, zu malen, malen.

„Adrian Mudder: Pictures from my Pocket“: bis So, 15. 3., Städtische Galerie Delmenhorst