Eine ausweglose Ehehölle

Das Verhältnis von Deutschen und Türken in Deutschland ist zerrüttet. Die öffentliche Debatte ist inzwischen geprägt von Vorurteilen und Stigmatisierungen des Anderen

Das alles beschreibt nicht etwa das Scheitern der „multikulturellen“ Gesellschaft

Seltsame Blüten treibt inzwischen die deutsche Einwanderungsgesellschaft. Seit Tagen wird eine Debatte um den Intelligenzquotienten von türkischen Einwandererkindern geführt, der, so belegen es die Zahlen, deutlich niedriger ist als der der deutschen Kinder. Der Zusammenhang zwischen Intelligenz, schulischem Misserfolg und ethnischer Herkunft taucht in der Wahrnehmung plötzlich als eine plausible, einfache Erklärung für Phänomene auf, die in Wirklichkeit komplex und widersprüchlich sind. Überhaupt sind Statistiken im deutsch-türkischen Verhältnis inzwischen ein Muss für jedermann, der mitreden will. Die emotionale Kälte, die Angst und die empfundene Fremdheit gegenüber dem Anderen sollen scheinbar durch harte Fakten untermauert werden. Türken schlagen ihre Frauen öfter als Deutsche, ihre Kinder schneiden in der Schule schlechter ab.

Wie aber sähen diese Statistiken aus, wenn man nicht die Deutschen und die Türken in Deutschland miteinander vergleichen würde, sondern soziale Schichten? Siehe da, wenn dies – selten genug – einmal geschieht, dann rücken Türken und Deutsche gefährlich zusammen, die Unterschiede verschwinden. Das allerdings beunruhigt anscheinend so sehr, dass angesehene und als seriös geltende Medien es immer wieder für angemessener finden, Statistiken auf ethnischer Basis zu veröffentlichen. Damit jedoch verraten sie sich selbst.

Es geht weder um Aufklärung der Gesellschaft noch darum, soziale Missstände aufzudecken. Es geht lediglich um verdrängte Gefühle, die man im postnationalsozialistischen Deutschland nicht richtig ausleben kann. Hinter angeblich objektiven Zahlen versteckt, geht es um die Bedienung von rassistisch motivierten Denkstrukturen, um die Stigmatisierung des Anderen.

Seit geraumer Zeit staut sich in Deutschland damit ein Konflikt auf, der das Land in den nächsten Jahren und Jahrzehnten nachhaltig beschäftigen wird und auch erheblich destabilisieren könnte. Es handelt sich um den deutsch-türkischen Konflikt. Es ist inzwischen gang und gäbe von „den“ Deutschen und „den“ Türken zu reden, nicht nur an Stammtischen und Kaffeehäusern, sondern auch in den seriösen Medien. Differenzierungen sind längst aufgegeben worden zugunsten einer Rhetorik des Verallgemeinerns und der ethnischen Zuordnung und Fixierung. Nicht der Einzelne bestimmt das Bild, sondern die Gruppe. Zusätzlich werden in Zeiten islamistischen Terrors die Türken als „Muslime“ einer weiteren Gruppe zugerechnet, die Menschen aus einem geografischen Raum umfasst, der von Marokko bis nach Indonesien reicht. So, als genügte die Religionszugehörigkeit, um alle anderen Faktoren, wie unterschiedliche historische Erfahrung, Sprache und gesellschaftliche Orientierung aus dem Blick zu bannen. Bewusst oder unbewusst hat sich in Deutschland eine Strategie der Distanzierung gegenüber den Türken etabliert, die entgegen jeder Integrationsforderung nichts anderes beschreibt als die Angst vor der Integration, nichts anderes als die Angst vor der dauerhaften Präsenz der Türken, die in Zukunft als Deutsche „getarnt“ in Deutschland leben werden. Das ist leider ein allzu bekanntes Phänomen.

Nicht anders war die jüdische Emanzipation und Gleichberechtigung Ende des neunzehnten Jahrhunderts verlaufen. Kann denn aus einem Juden überhaupt ein Deutscher werden, fragten sich damals um das Wohl der deutschen Nation besorgte Wissenschaftler und Publizisten. Heute freilich geht das alles nicht so offenherzig. Und die Türken sind freilich keine Juden. Sie leben nicht seit Jahrhunderten in Deutschland. Wir sind aber auch nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert, sondern im einundzwanzigsten. Und genau dieses einundzwanzigste Jahrhundert scheint viele in Europa, nicht nur in Deutschland, zu überfordern.

Wer mit dem raschen sozialen Wandel, den komplexen, oft widersprüchlichen Identitätsverschiebungen und kulturellen Umbrüchen, den Herausforderungen, die durch Einwanderung und Globalisierung entstanden sind, nicht zu Rande kommt, greift zu alt bewährten Mustern der ethischen Fixierung und Stigmatisierung. Die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden sollen wieder verbindlich festgeschrieben werden. Da taucht dann plötzlich der Fremdarbeiter hinter dem Gastarbeiter auf, den man doch schon längst, wenn nicht zum deutschen Staatsbürger, so doch zumindest zum Migranten hatte aufwerten wollen.

Noch vor einem Jahrzehnt wurden die Türken in Deutschland von Neonazis körperlich attackiert. Auch wenn die Orte Mölln und Solingen aus dem deutschen Bewusstsein inzwischen verschwunden sein mögen, im türkischen werden sie nach wie vor erinnert und bilden einen durchaus relevanten Erfahrungshintergrund für die Begegnung mit den „Deutschen“. Längst haben die Türken den Nazi im Deutschen entdeckt, nicht mehr nur als Einzelfall, sondern als Denkschablone, die zwar noch mit vielen Verboten belegt ist, aber sich dennoch Luft verschafft mit Sätzen, die zumeist wie folgt beginnen: „Aber das muss ja auch einmal gesagt werden …“ oder: „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber …“

Unter diesen Umständen wäre eine Annäherung zwischen Deutschen und Türken ein Wunder. Vielmehr trifft ein verunsichertes deutsches Bewusstsein auf ein unzufriedenes, zumeist tief gespaltenes türkisches Bewusstsein. Wer dazugehören will, darf nicht, wer nicht dazugehören will, wird angefeindet. Immer schwieriger wird der Perspektivwechsel, der für die gegenseitige Kommunikation und Anerkennung von entscheidender Bedeutung ist. Die Fähigkeit, die Dinge mit den Augen des anderen zu sehen, nimmt ab.

Vielmehr entsteht eine Lagerbildung: Bist du ein Türke, bist du kein Deutscher! Es bildet sich eine durch harte Grenzen emotionalisierte Atmosphäre, die kritisches Denken auch gegenüber den eigenen problematischen Seiten erschwert und nationale Gefühle stärkt. Und jene, die das Eigene und das Andere nicht so genau beschreiben können oder wollen, weil sie weder das eine noch das andere sind, werden kaum wahrgenommen. Oder ihnen wird unterstellt, sie säßen zwischen den Stühlen.

Dies ist die Angst vor der Präsenz der Türken, die künftig als Deutsche „getarnt“ hier leben werden

Das alles beschreibt nicht etwa das Scheitern der so genannten multikulturellen Gesellschaft, denn die werden wir nicht mehr los, solange wir Kulturen als abgeschlossene, in sich harmonische Räume betrachten, sondern die Mühen einer von beiden Seiten unbedacht eingegangenen Ehe.

Aus dieser Ehehölle wird man durch eine Scheidung nicht so leicht erlöst werden können. Es ist eher zu erwarten, dass sie fortgesetzt wird, bis die Kinder aus dieser Ehe darüber entscheiden, ob sie lockerer und kreativer mit diesen Fragestellungen umgehen wollen, so wie es in der künstlerischen Produktion der zweiten und dritten Einwanderergeneration manchmal aufblitzt – oder ob sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen.

ZAFER ȘENOCAK