Berlins größte Klappe

Am Wochenende wurde der erste Bügelbau über dem neuen Hauptbahnhof erfolgreich umgelegt. Gewitter in der Nacht führten zu Verzögerungen. Viele Zuschauer verfolgten das Kipp-Spektakel

VON FRAUKE ADESIYAN

Malerisch sieht es am Samstagmorgen im Regierungsviertel aus. Rote und gelbe Kräne drehen sich vor den letzten grauen Wolken der Gewitternacht. Der große Tag für die westlichen Bügelbauten des neuen Hauptbahnhofs ist angebrochen: Heute werden sie vollends umge- legt.

Die groß angekündigte Aktion der Bahn, die senkrecht gebauten Bürotürme zu kippen und zu einer waagerechten Brücke über dem Bahnhofsgewölbe zusammenzufügen, hat bereits in der Nacht begonnen. Bei strömendem Regen und taghellen Blitzen haben die Ingenieure in der Nacht angefangen, die beiden 1.250 Tonnen schweren Brückenhälften anzuheben. Die Veränderung war in dem Gewitterregen kaum zu erkennen.

Am Samstagmorgen gibt es dann etwas zu sehen. Die Bügel haben inzwischen einen Kippwinkel von etwa 30 Grad erreicht. Von diesem Anblick angelockt, schleichen Heidi und Otto Schröder seit 6.30 Uhr um das abgesperrte Gelände. Jetzt, drei Stunden später, sitzen sie auf ihren winzigen Campinghockern mit einem ebenso winzigen Fernglas auf der Wiese am Spreeufer. Sie beobachten die sich neigenden Bügelbauten: „Man sieht die langsame Bewegung ja kaum. Wir merken uns immer bestimmte Punkte. Vorhin zum Beispiel war die Oberkante noch über dem gelben Kran“, erzählt der 70-jährige Otto Schröder. Beide sagen sehr oft Wörter wie „bewundernswert“ oder „spektakulär“. Solche Gäste wünscht sich die Bahn zu ihrem Kipp-Event.

Hoch über den Fluss und den Schröders, im Spreebogenpark, feiert die Deutsche Bahn ihr Projekt und sich selbst. Besonders emotional berührt ist der Niederlassungsleiter der DB Projekt Bau, Lothar Legler. Am Freitagabend habe er ein „Knistern“ verspürt, erzählt er. „Und zwar nicht nur das der Blitze am Himmel. Ich habe in die Augen der Männer da oben geschaut: Da war nur Zuversicht und Entschlossenheit“, schwärmt er.

Bei Andreas Gausmann knistert es unterdessen nur noch im Sektglas, an dem er sich festhält. Der Projektingenieur, der das Klappen kontrolliert, ist seit Freitagnachmittag auf den Beinen und vor Ort, seine Augen sind glasig, die Ringe darunter tief. Stolz sei er nicht – aber glücklich: „Es ist einfach super, dass das funktioniert, worauf man jahrelang hingearbeitet hat.“

Ein „super“ kommt Ulrich Westerkamp nicht über die Lippen. Der 25-jährige Offenburger sitzt mit seiner Freundin auf großen Handtüchern am Spreeufer. Es gibt Vollkornbrot mit Marmelade, ein Korb Heidelbeeren steht vor ihnen auf dem Rasen. Doch die Idylle trügt, Westerkamp ist ungehalten. „Ich denke, dass dieses Projekt ein riesiger Verlust wird für die Bahn und ich hoffe auch für die Stadt. Der Senat ist einfach unfähig“, schimpft der studierte Wirtschaftsingenieur. Die von hier winzig erscheinenden Bauarbeiter, die seine Freundin beobachtet, können ihn nicht aufmuntern. Westerkamp denkt vor allem an die Finanzierung des Großprojekts: Er glaubt nicht, dass die Bahn die im Bügelbau geplanten Büroflächen je vermietet bekommt.

Die Polizisten auf der anderen Seite der Spree, direkt vor der Baustelle, denken lieber an die Finanzen der Stadt und verteilen Strafzettel. Ein Schaulustiger hat sein Auto auf dem Bürgersteig geparkt – und versteht jetzt die Welt nicht mehr. Er beschimpft einen Polizisten: „Hier ist gerade so ein Riesenschauspiel, und Sie können an nichts anderes denken als ans Abkassieren.“

Auch direkt am Bauzaun scheint die Stimmung zu kippen, weil einer der Bügel genau das nicht mehr tut. Sehr deutlich wird mittags, was zuvor bestritten wurde: Ein Bügel ist wesentlich weiter geneigt als der andere. In der Nacht war durch das Gewitter die Elektronik beschädigt worden. Deshalb bewegte sich ein Bügel mehrere Stunden gar nicht mehr. Die Beschwichtigungen der Sicherheits- und Öfentlichkeitsmitarbeiter der Bahn reichen von „Das ist die Perspektive“ über „Niemand hat je gesagt, die Bügel müssen parallel gesenkt werden“ bis zu „Das machen die mit Absicht so“.

Aufgeregt beobachtet auch das Ehepaar Siehler das unregelmäßige Absenken. Während Hobbyfotograf Lutz Siehler unentwegt auf Wolkenlöcher wartet, erzählt die 50-jährige Bauleiterin Ute Siehler, dass sie auf so einer Riesenbaustelle gern einmal mitarbeiten würde: „Aber nicht als Bauleiter, das wäre mir dann doch zu aufregend.“

Um genau 19.35 Uhr ist die Aufregung für die Deutsche Bahn vorbei. Beide Bügel haben die Horizontale erreicht. Es hat geklappt.