Martin Walser gestorben: Das hemdsärmelige Bild aufbrechen

Er war der unwahrscheinliche Autor der Bundesrepublik: rauflustig, männlich, heroisch – und Walser schwamm täglich im Bodensee. Ein Nachruf.

Der Schriftsteller Martin Walser bei einem Spaziergang

Martin Walser im Jahr 2016 Foto: Felix Kästle/dpa

Was soll man jetzt herausstellen? Den Umstrittenen? Die Instanz? Das Relikt?

Martin Walser hatte etwas Überlebensgroßes, etwas Patriarchales auch, und im Laufe seiner langen, langen Karriere zettelte er viele (und auch unglückliche) Schwergewichtsdebatten an – Friedenspreisrede 1998: „Moralkeule Auschwitz“. Doch er besaß auch eine leise Seite.

Einer seiner schönsten Sätze ist so schlicht, wie man es mit diesem zeitlebens oft schlachtrosshaften Autor zunächst kaum in Verbindung bringt. Der Satz lautet: „Ein Tropfen auf den kalten Stein.“ Es ist noch nicht einmal ein ganzer Satz, eher ein Seufzer, eine einfache Umkehrung einer geläufigen Redensart, eine Sentenz aus dem Notizen-Band „Messmers Reisen“.

Auf solche Gegensätze zu achten, kann man trainiert sein, wenn man ein paar seiner Romane gelesen hat. In seinen Büchern tauchen immer wieder rivalisierende Männer-Duos auf: Chefs und Angestellte; Schulfreunde, die sich im Urlaub wiedertreffen und ihr Leben vergleichen; Schriftsteller und Literaturkritiker, in innigster Abneigung miteinander verbunden (siehe seinen Skandalroman „Tod eines Kritikers“). Und vielleicht muss man sich Martin Walser auch selbst so vorstellen, als Rivalen seiner selbst, als ein Autor, in dem es eine Großschriftstellerseite gab und etwas Außenseiterhaftes und beide Seiten miteinander im Widerstreit lagen.

Da war dieses studienratsmäßig Sakkotragende, das er ausstrahlte, fast etwas Literaturfunktionärshaftes, von seinen Augenbrauen gar nicht zu reden. Und gleichzeitig gibt es von ihm tatsächlich beseelte Sätze über die Macht der Sprache. Was immer man, nun mit Abstand betrachtet, von seinen Büchern hält, er selbst hat pathetisch an die Literatur geglaubt.

Da war etwas Rauflustiges – immer ging er gegenan. Erst war er sogar den 68ern zu links, dann redete er von Geschichtsgefühl und Nation, als das noch ein No-go war. Oder seine jahrzehntelange Abarbeitung an Auschwitz: Erst thematisierte er Auschwitz bereits, als das noch kollektiv beschwiegen wurde, dann, als die Bundesrepublik sich endlich offiziell zum Holocaust bekannt hatte, problematisierte er wiederum das, manches Schlussstrich-Missverständnis in Kauf nehmend. Und dann war da auf der anderen Seite aber auch eine große Sensibilität, ein ständiges inneres fühlendes Beben und Brodeln; gerade im direkten Kontakt konnte man ihn dünnhäutig erleben.

Er quoll vor Gefühlen sprachmächtig über

Im Grunde war er, alles in allem, der unwahrscheinliche Autor der Bundesrepublik. Dass es eine moralische Instanz geben musste (Böll), jemanden, der barocke Sprachlust in der normalitätssuchenden BRD entfesseln würde (Grass), und auch einen listigen Spieler (Enzensberger), war im Szenario Nachkriegszeit sozusagen angelegt. Aber für Martin Walser, der vor Gefühlen sprachmächtig überquoll, lag kein Skript bereit. Und gleichzeitig ließe sich gerade an ihm entlang die gesamte Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erzählen und vieles auch darüber hinaus über das wiedervereinigte Deutschland.

Martin Walser ist so alt geworden, dass seine Anfänge nicht nur geschildert, archiviert und literaturwissenschaftlich gut erforscht, sondern inzwischen auch wieder ein Stück weit vergessen worden sind. Dabei kann einem schon imponieren, wie früh er, der 1927 geborene Sohn eines Gasthausbesitzers am Bodensee, bei fast allen Entwicklungen dran war, die für die bundesrepublikanische Literatur entscheidend werden sollten.

Über Kafka hat er schon promoviert, als der noch längst nicht zur durchgesetzten Über-Ikone eines modernen Literaturbegriffs (und zum Schulstoff) geworden war. Von Proust hat er sich schon viel abgeschaut, als er noch Geheimtipp war: das Setzen auf auserzählende Genauigkeit in den Details etwa. In vielem lässt sich Martin Walsers Werk insgesamt als Projekt verstehen, den deutschen Alltagsmenschen und Kleinbürgern ein genauso komplexes Bewusstseinsleben zuzuschreiben, wie Proust es bei seinen französischen Großbürgern erforscht hat.

Auch institutionell war Martin Walser früh dabei. Angefangen hat er als Radioreporter, zu der Zeit, als das Radio noch die wichtigste Geldquelle für Schriftsteller war. Und er war zur Stelle, als Siegfried Unseld aus dem Suhrkamp-Verlag ein weltwichtiges Zentrum der Literatur formen wollte – und das eine Zeitlang sogar auch hingekriegt hat -, und damit befand er sich mitten drin im Maschinenraum der intellektuellen Gründung der Bundesrepublik.

Männlichkeit ausleben

Das Männerbündische daran füllt längst Bibliotheken. Mit Uwe Johnson verband Martin Walser eine komplizierte Männerfreundschaft, besoffene Zerwürfnisse und dramatische Versöhnungen inklusive. Mit Frisch, Enzensberger, auch Grass wurde eine Männlichkeit ausgelebt, die sich stets in der Konkurrenz um Auflagenhöhen, Verlegergunst und sogenannten Frauengeschichten beweisen musste.

Martin Walsers Rolle in dieser Hackordnungswelt – Marcel Reich-Ranicki, nachdem er FAZ-Literaturchef geworden war, immer mittendrin – war die des Empfindungstheatralikers und Beziehungsarbeiters; Beziehungen sind in seinen Büchern viel wichtiger als Handlungen. Ein schiefes Wort seines Verlegers konnte ihn aus der Bahn werfen, bevor er sich in das Schreiben des nächsten Buchprojektes rettete. Die Walser-Bücher kamen Schlag auf Schlag: „Ehen in Philippsburg“, „Halbzeit“, „Das Einhorn“, „Jenseits der Liebe“, „Ein fliehendes Pferd“, „Brandung“, „Dorle und Wolf“, „Die Verteidigung der Kindheit“, „Finks Krieg“ usw. Gefühlskrisen hatte er womöglich zwei die Stunden, Schreibkrisen dagegen hat er nie sonderlich gehabt.

Es gibt so vieles, was einem an dieser Zeit inzwischen fremd vorkommen kann. Ein seltsamer kraftwerkhafter Heroismus steckte in dem damaligen Literaturbetrieb, aber auch etwas von einer Soap-Opera. Wer nicht unbedingt Bewunderer sein wollte, stand manchmal einfach nur staunend daneben (und hielt sich eh lieber an die Amerikaner oder auch an Arno Schmidt), als Nachgeborener sowieso.

Und dann stößt man gerade rund um Martin Walser aber auch immer wieder auf lustige Anekdoten, die das hemdsärmelige Bild aufbrechen und sich nicht gleich einfügen lassen wollen. Zum Beispiel hat er eine Zeitlang, wie er mal erzählte, beim Schreiben immer so lange die Luft angehalten, bis ein Satz fertig auf dem Papier stand (und er hat in der Nachfolge Prousts oft lange Sätze geschrieben!): ein schönes Bild für die existenziellen Nöte des Schreibens. Aber er hatte eben auch das große Lungenvolumen eines Menschen, der täglich im Bodensee schwimmen gegangen ist.

Der wirkliche Autor der Deutschlehrer

Es gab zwei Konstellationen, in denen ich Martin Walser mit großer Neugier gelesen habe. Die erste reicht weit zurück an den Punkt, als Schriftsteller noch Instanzen und Fixpunkte der gesellschaftlichen Orientierung waren: Noch als Gymnasiast hatte ich mir Martin Walsers Roman „Halbzeit“ aus dem Jahr 1960 vorgenommen.

Ich wollte damit zum Teil wohl meinem Deutschlehrer gefallen – mein Verdacht war immer, dass Walser der wirkliche Autor der Deutschlehrer war, den sie aber mit ihren Schülern, um nicht zuviel über sich zu verraten, dann lieber doch nicht durchgenommen haben -, zum Teil ging das Interesse aber auch tiefer. Halb unbewusst, halb programmatisch ging es darum, die Erwachsenen zu verstehen oder ihnen wenigstens näher zu kommen, diesen Angestellten mit ihren Vorortträumen, die immer mit sich selbst kämpften, um sich mit ihrer entfremdeten Existenz zu arrangieren (so dachte ich damals). Martin Walser, Chronist des bundesrepublikanischen Alltagsbewusstseins, plauderte eine Menge aus über ihre Rollenprobleme, Anpassungssorgen und Aufsteigerängstlichkeiten.

Dass die Männer und Frauen, die die Bundesrepublik aufgebaut haben (mit der DDR und deutsch-deutschen Themen beschäftigte sich Walser später), nicht nur die entfremdeten grauen Existenzen waren, als die zum Beispiel Michael Ende sie zeichnete, habe ich tatsächlich wohl unter anderem bei Martin Walser begriffen. Er gestand seinen alltäglichen Antihelden, ob sie nun Christlein, Zürn, Dorn oder Fink heißen, innere Dramen zu, Seelenarbeit (einer seiner Romantitel) und Selbstzweifel. „Der Mensch sei zweifellos ein Fehler der Natur, aber der Kleinbürger sei die Erhebung des Fehlers zum Programm“, heißt es in seinem großen Erfolgsbuch „Ein fliehendes Pferd“.

Dass hinter den Normalitätsfassaden der Wohlstandsgesellschaft Bewusstseinsdramen gärten, das hat er immer wieder beschrieben. Und vielleicht ist es das, was man am tiefsten an ihm gut finden kann: immer mitten reinpieksen in die Normalität – dass er damit dieser so seltsamen Normalität verhaftet blieb und damit der Neugier auf ihn auch Grenzen gesetzt waren, steht auf der anderen Seite desselben Blatts. Für Drop-outs, Aussteiger oder auch nur Außenseiter hatte er keine literarische Musikalität.

Die zweite Konstellation des neugierigen Walserlesens lag in den späten neunziger Jahren. In „Ein springender Brunnen“ beschreibt Martin Walser, kaum verhüllt autobiografisch, einen Jugendlichen, der seltsam untraumatisiert aus der Nazizeit herauskommt. Es ist die Suche nach einer eigenen Sprache, die ihn wie ein Schutzschild vor allen Anfeindungen und Totalitarismen bewahrt, und zwar sowohl denen der Nazis als auch denen der in ihrem autoritären Auftreten ähnlich abstoßend gezeichneten katholischen Kirche in der tiefsten Provinz. Der Johann in dem Buch vertraut nur sich selbst, seiner Sprache und seinen Büchern.

Tabubrüche und Schlussstrichforderungen

Das mag ein Schutz sein, und man versteht von da aus auch, warum Martin Walser mit dem Schreiben bis ins hohe Alter nicht aufhören konnte (die Schutzbedürftigkeit hörte nicht auf), es führt aber wohl auch zu einem rigiden und teilweise schrankenlosen Gefühls-Ego, das Martin Walser vielleicht letztlich eher schreibend ausgelebt als analysiert hat, was sich dann auch in seiner Friedenspreisrede zeigte. Dass die Rede für sogenannte Tabubrüche und Schlussstrichforderungen dienstbar gemacht werden konnte, hätte er sehen müssen.

Dieselbe Scham, die er gegenüber dem Holocaust zutiefst empfand, führte bei ihm zu Abwehrmechanismen, wenn sie ihm von außen, der Öffentlichkeit etwa, nahegebracht oder auferlegt wurde. Eine Zeitlang wollte ich in ihm gerne einen Ruhepol und Zeitzeugen sehen, doch er hörte einfach nicht auf zu brodeln.

Das Bild vom Tropfen und dem kalten Stein mag auf viele seiner Figuren zutreffen, letztlich aber nicht auf Martin Walser selbst. Ohne Zischen und Hitze ging es bei ihm nicht. Am 28. Juli ist Martin Walser im Alter von 96 Jahren in Überlingen gestorben.

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