ein brief an einige leserInnen
: Auch dafür ist die taz gegründet worden

Vielfältig und unabhängig zu berichten heißt, sich zu fragen: Was, wenn andere recht haben? Aber auch: zu den eigenen Erkenntnissen zu stehen

Das Mikrofon des NDR während einer Pressekonferenz zur Lieferung von 400.000 Atemschutzmasken Foto: Ole Spata/dpa

Von Anja Maier

Die taz ist gegründet worden als Projekt der Gegenöffentlichkeit. 1979 war das. In Nicaragua endete damals die Diktatur Somozas. Sowjetische Truppen marschierten in Afghanistan ein. Der Deutsche Herbst polarisierte das Land. So waren sie, die Zeiten: bewegt und in Teilen repressiv. Mit der täglichen linken Tageszeitung verband sich die Hoffnung, das Ungehörte laut, das Quergedachte geltend, das Verdrängte sichtbar zu machen. Das Internet war noch irgendeine Raketenwissenschaft für Nerds, Menschen schrieben einander Telegramme. Und da wo ich herkomme, in der DDR, hatten die meisten nicht einmal einen privaten Telefonanschluss. Von freier Presse konnte nicht die Rede sein.

Mittlerweile tragen wir alle die ganze Welt in unserem Mobiltelefon mit uns herum. Wir haben jederzeit unbegrenzten Zugriff auf Informationen, auf die guten und die schlimmen. Die taz, meine Zeitung, ist eine Quelle unter Millionen: klein, aber von Belang. Das jedenfalls entnehmen wir den Mails und Briefen unserer Leser*innen, die uns täglich erreichen.

Seit dem Ausbruch des Coronavirus ist darunter viel Zustimmung, aber auch immer wieder Kritik. Wie haltet ihr es noch mit der Gegenöffentlichkeit? Seid ihr nicht mittlerweile ein regierungsamtliches Verlautbarungsblatt? Wieso werden Kritiker*innen der aktuellen Politik als Verschwörungstheoretiker*innen bezeichnet? Ist Freiheit gerade in Coronazeiten nicht immer die Freiheit der Andersdenkenden – so, wie es in eurem Redaktionsstatut steht?

Wir lesen diese Zuschriften alle, und wir nehmen sie ausnahmslos ernst. Und doch gibt es ein Aber. Wir bilden Vielfalt ab, weil wir vielfältig sind und denken. Für mich bedeutet das, Informationen zu beschaffen und sie den Leser*innen zugänglich zu machen. Manche kommentiere ich auch. Ich versuche offen zu bleiben für neue, auch unbequeme Sichtweisen. Es gilt der so kluge wie enorm anstrengende Satz: Der andere könnte recht haben. Aber ich erfülle keine Wünsche der Art, gewonnene Erkenntnisse und Überzeugungen über den Haufen zu werfen, um den Eindruck von Leser*innen abzuschwächen, wir in der taz-Redaktion seien „gelenkt“, wir seien „Mainstream“ oder „Systempresse“.

Als Parlamentsberichterstatterin bin ich ziemlich nahe dran am politischen Geschehen. Ich spreche mit Politiker*innen und versuche, deren Entscheidungen und die Wege dorthin transparent zu machen. Mir geht es dabei wie allen im Land: Manches verstehe ich, manches überhaupt nicht. Einiges halte ich für überzogen, anderes für überfällig. Was ich aber nie erlebe, ist so etwas wie ein politikseitiger Schreibauftrag. Nie. Da bin ich ganz die taz: unabhängig.

Das, was sich seit Monaten ereignet, betrifft die Lebenswelt aller in unterschiedlichster Weise. Corona ist lebensgefährlich, das Virus erzeugt Unsicherheit und Existenzangst. Es trennt und spaltet Familien. Es bewirkt, dass Grenzen geschlossen bleiben und Meinungen und Erfahrungen abgetan werden, während Lobbyist*innen Gehör finden. Das ist anstrengend und wird mitunter massiv verschärft durch unverständliche Verordnungen. „Eine demokratische Zumutung“ sei Corona, hat Angela Merkel gesagt. Ich halte viele Verordnungen für angemessen, wünsche mir allerdings eine bessere Abstimmung zwischen Ländern und Bundesregierung. Durch Verordnungswirrwarr entsteht Unsicherheit; und wer unsicher ist, macht Fehler, die lebensgefährlich sein können.

Die zentrale Erfahrung der zurückliegenden Wochen ist also die einer „radikalen Ungewissheit“ – so hat das die Theologin Petra Bahr gerade in einem taz-Interview formuliert (https://taz.de/Bischoefin-ueber-den-Umgang-mit-Corona/!5681515/). Das Gespräch mit ihr, dem Mitglied des Deutschen Ethikrates, hat die taz deshalb gesucht, weil wir eben nicht nachbeten, was der Regierungssprecher oder das Robert-Koch-Institut uns mitteilen. Sondern weil auch wir spüren, wie sich die Atmosphäre zuspitzt, wie Zweifel und Alternativen beiseitegewischt werden. Wir fragen uns, woran es liegt, dass unsere Leser*innen aufgebrachte E-Mails schreiben, die allermeist klug und diskursiv sind, die aber manchmal selbst vor Trump-Vokabular nicht zurückschrecken und „alternative“ Informationsquellen empfehlen, die eindeutig dem Spektrum von Klimawandel-Leugner*innen und rechten Verschwörungsanhänger*innen zuzuordnen sind.

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Anja Maier, geboren 1965 in der DDR, ist taz-Parlamentsredakteurin. Als 1989 die Mauer fiel, freute sie sich, bei der „libertären und immer schon positiv verrückten taz“ anzufangen.

Petra Bahr, Bischöfin von Hannover, spricht von einem „ruppigen Ton“ und stellt fest: „Drastische Einschnitte in die Grundrechte zu thematisieren ist nachgerade Bürgerinnenpflicht.“ Sie fordert aber auch dazu auf, sich zu fragen, wie das geschieht. Aus der politischen Lage „eine Analogie zum Nationalsozialismus abzuleiten, von ‚Virologendiktatur‘ oder Ähnlichem zu schwadronieren“ findet sie „unerträglich und geschichtsvergessen“.

Widersprüche darzustellen, Informationen zu beschaffen, zu prüfen und gegebenenfalls neu zu bewerten – daran arbeiten wir hier in der taz jeden Tag. Und ja, Einschnitte in die Grundrechte zu thematisieren ist in Zeiten einer globalen Pandemie Pflicht und publizistischer Auftrag. Aber zu berichten, wenn der Protest von Antisemit*innen und gewaltbereiten Rechten gekapert wird, zwingend auch. Auch dafür ist die taz damals gegründet worden.