Schulöffnung auf Dänisch

Kein Land in Europa hat die Kinder so frühzurück in den Unterricht gelassen wie Dänemark.Die guten Erfahrungen rechtfertigen den Mut

Unterricht mit hohem Besuch: Mitte Mai tourt die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen von Schule zu Schule, um zu sehen, wie die Schulöffnungen laufen Foto: Ritzau Scanpix/reuters

Aus Hurup Thy Carsten Hougaard

Am Mittwoch, dem 11. März wurde es sehr still in der Volksschule von Hurup Thy, einem 2.700-Seelen-Ort im Norden Dänemarks. 510 Schüler bis zur 9. Jahrgangsstufe lernen hier. Viele der Schüler ab der 5. Klassen kommen aus den umliegenden Dörfern. Hurup Thy liegt in Nordwestjütland zwischen Limfjord und Nordsee, die hier Vesterhavet genannt wird.

Der Coronalockdown kam unerwartet, erzählen Schulleiter Per Olesen und seine Stellvertreterin Lise Knudsen. Als die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen die Schulschließungen verkündete, hätten sie nur wenige Stunden Zeit gehabt, alles vorzubereiten. „Alle unsere Schüler bekommen zwar ein i-Pad oder ein Homebook von der Schule gestellt“, erzählt Per Olesen. „Aber der Fernunterricht war für uns Neuland.“

Was danach folgte, ähnelte sehr den Erfahrungen in Deutschland und anderen Ländern zu Beginn der Pandemie: Lehrer mussten ihren Unterricht über Nacht umstellen und neue Programme testen; Eltern mussten sich neben dem Job im Homeoffice als Hilfslehrer bewähren. Und die Schüler mussten feststellen, dass der digitale Unterricht – je nach Lehrer – sehr unterschiedlich ausfallen kann. Und dass die Schulen alle zu Beginn erhebliche IT-Probleme hatten.

Davon können auch Stig Asboe, der mit seiner Frau und den Kindern Einar (7) und Sigrid (5) auf einem stillgelegten Bauernhof auf der Halbinsel Boddum südöstlich von Hurup wohnt, ein Lied singen. An der Huruper Schule war das öffentliche System „Aula“ zusammengebrochen. Erst lief vieles über Facebook, danach trafen sich die Schüler mit ihrem Lehrer über ein Google-Programm im virtuellen Klassenzimmer, erzählt Stig Asboe. Weil er und seine Frau beide im öffentlichen Dienst arbeiten und während der Pandemie weiterbezahlt wurden, konnten sie sich sehr gut um ihre Kinder kümmern. Doch gerade als der neue Schulalltag einigermaßen eingespielt war, änderte sich plötzlich wieder alles für die Asboes – und für rund 670.000 dänische Schülerinnen und Schüler.

Am 16. April – so früh wie in keinem anderen europäischen Land – durften Grundschüler einschließlich der 5. Klassen wieder in die Schule. Auch Kindergärten und Horte wurden wieder geöffnet. Und wie schon die Schulschließung traf auch die Öffnung die Schulleitung in Hurup unvorbereitet. Vor allem drängte sich die Sorge auf, dass sich die Schulen zu Coronahotpots entwickeln könnten. „Es herrschte große Unsicherheit“, erinnert sich Schulleiter Per Olesen. „Wir mussten unser gesamtes Mindset ändern. Zu dem Zeitpunkt waren noch sehr viele Corona-Erkrankte in den Krankenhäusern. Die Gefahr, sich anzustecken, war laut den öffentlichen Stellen immer noch sehr hoch. Trotzdem beschloss die Regierung, die Schulen wieder zu öffnen.“

Aus diesem Grund hat die Schule in Hurup die Hygienevorgaben des dänischen Bildungsministerium sehr ernst genommen. Der Abstand zwischen den Schülern musste zwei Meter betragen, und jede Schulklasse musste ihren eigenen Eingang und ihre eigene Toilette haben, erzählt Per Olesen. An seiner Schule seien jedoch vier Quadratmeter auf jeden Schüler gekommen. Glücklicherweise seien die meisten der Klassenzimmer an der Schule durch eine Trennwand geteilt. „Wir konnten also zwei Klassenzimmer für eine Schulklasse benutzen“, sagt Olesen. Das alles ging natürlich nur, weil die ältesten Jahrgänge zunächst noch zu Hause bleiben mussten.

Eine Reihenfolge, wie sie etwa zur selben Zeit in Deutschland auch die Wissenschaftler der Leo­poldina empfohlen hatten. Erst sollen die jüngeren Kinder zurück an die Schule, später die älteren. Deutschland entschied sich bekanntlich anders und schickte als Erstes die Abschlussklassen zurück an die Schulen.

In Dänemark stieß die Entscheidung, Kindergartenkinder und Grundschüler nach nur 5 Wochen wieder an die Schulen zu lassen, auf Verwunderung, blieb ein Großteil des Landes doch noch im Lockdown. Warum die Schulen wieder offen sein sollen, Einkaufszentren aber nicht, leuchtete vielen nicht ein. Wer zu einer Covid-Risikogruppe zählt, muss jedoch nicht zum Unterricht in der Schule erscheinen.

Im Hause Asboe jedoch war die Freude groß. „In unserer Familie genießen wir es, Zeit miteinander zu verbringen. Aber Einar vermisste seine Klassenkameraden. Gleichzeitig konnten wir uns auf den verkürzten Schultag einstellen. Der Hort war zwar wieder geöffnet. Man sah es doch gerne, dass so wenige wie möglich das Freizeitangebot in Anspruch nahmen“, so Stig Asboe.

Und es gibt noch einen weiteren zentralen Unterschied zu der deutschen Schulöffnungsdebatte. Mitte April, zeitgleich mit der Wiederaufnahme des Schulbetriebs, wurde das dänische Schulgesetz auf Eis gelegt. Der zu erlernende Unterrichtsstoff eines Jahrgangs war jetzt nicht mehr so wichtig. Der verpasste Unterricht muss nicht kompensiert werden. „Ab jetzt waren es die Lehrer, die bestimmten, was wann unterrichtet wurde“, sagt Schulleiter Per Olesen. „Als wir nach dem Lockdown noch 100 Prozent auf das Fachliche fokussiert waren, waren es jetzt nur noch ein Drittel des Unterrichts. Der Rest bezog sich auf das soziale Beisammensein.“ Gleichzeitig bestimmte man, das die Unterrichtsstunden abwechselnd drinnen und draußen stattfanden, so Lise Knudsen.

Natürlich galten weiter strenge Regeln. So durften sich die Schüler nicht mit Schülern anderer Klassen auf dem Schulhof treffen. Jede Toilette hatte Namensschilder der fünf Schüler, die diese benutzen durften. Die Schüler mussten sich immer wieder die Hände waschen. In den sozialen Medien kursierten Fotos von aufgeweichten Kinderhänden. Und auch an der Schule in Hurup gab es solche Vorkommnisse, so die beiden Schulleiter.

„Ich war eigentlich sehr überrascht darüber, wie gut die Kinder das verinnerlicht haben. Wir brauchten die 2-Meter-Abstandsregel nicht zu diskutieren. Nun muss man natürlich auch wissen, dass sie so lange zu Hause waren. Sie wussten, wenn sie jetzt nicht aufpassen, dann werden sie wieder nach Hause geschickt. Aber jetzt konnten sie wieder mit ihren Klassenkameraden zusammen sein“, sagt Lise Knudsen.

Auf jeder Toilette Namensschilder der fünf Schüler, die nur sie benutzen dürfen

Die Lehrerin hat beobachtet, dass der Mix aus Unterricht und Bewegung der perfekte Mix für ihre Schüler ist. „Die Kinder waren weniger krank und es gab auch weniger Konflikte zwischen den Schülern. Es ist ja auch schwer, aufeinander loszugehen, wenn der Abstand zwei Meter beträgt. Und viele Schüler, die es normalerweise schwer haben, ruhig auf dem Stuhl zu sitzen, wurden durch die neue Unterrichtsform motiviert“, erzählt Knudsen.

Von dieser Erfahrung will die dänische Erziehungsministerin Pernille Rosenkrantz-Theil von der sozialistischen Partei auch künftig profitieren. Eine Arbeitsgruppe soll prüfen, ob man künftig Gruppenarbeit und virtuelles Lernen stärker in den Unterricht integrieren kann. „Wir brauchen eine Studie darüber, wer davon profitiert hat und wer nicht von dieser Art des Unterrichts profitiert hat“, sagte Ministerin Rosenkrantz-Theil.

Auch Familie Asboe auf Boddum möchte die Erfahrung nicht missen. „Wir sind als Familie enger zusammengerückt“, sagt Vater Stig Asboe. Die positiven Erfahrungen der ersten Schulöffnung führten über Ostern zu Diskussionen darüber, ob es an der Zeit wäre, auch die ältesten Schüler zurück an die Schulen zu lassen. Am 18. Mai war es dann so weit. Was die Raumplanung an den Schulen ordentlich durcheinanderwirbelte.

„Wir hatten das Glück, dass wir die ungenutzte Sporthalle und ein Nachbargebäude benutzen durften“, erzählt Schulleiter Olesen. Die Schüler der Jahrgänge 6 bis 9 wurden danach außerhalb der Schule unterrichtet, der Mindestabstand zwischen den Schülern auf einen Meter verringert. Dennoch fiel es den älteren schwer, sich an die Regeln zu halten. „Sie wollten darüber diskutieren“, erinnert sich Lise Knudsen. Sie ist froh, dass an ihrer Schule kein Corona ausgebrochen ist.

Nur an zwei Schulen im Land hat es seit Mitte April größere Ausbrüche gegeben. Die Sorge, die Schulen könnten zu Corona­hotspots werden, ist nicht eingetreten. Nach den Sommerferien, die diese Woche begonnen haben, soll das Schuljahr in Dänemark wieder regulär starten.