Die Welt als Ganzes

LICHTJAHRE Getröstet vom Himmel: Norbert Zähringer erzählt eine rasante Geschichte mit transzendentalem Überbau

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Sie gehen durch den Garten des portugiesischen Ferienhauses, durch Gestrüpp hindurch, der todkranke Laska und die junge Ukrainerin Anna. Zwei, die es auf verschlungenen Wegen jetzt gemeinsam hierhin verschlagen hat. Im Garten ein kleine Hütte; Laska drückt einen Knopf und das Dach schiebt sich zur Seite. In der Hütte das große Teleskop. Zweieinhalb Milliarden Jahre, so erklärt Laska, habe das Licht vom Quasar 3C 273 gebraucht, um bis zur Erde zu gelangen. Bei einer Lebensdauer von einigen hundert Millionen Jahren sei anzunehmen, dass der Quasar mittlerweile gar nicht mehr existiere. „Wir schauen zurück“, sagt Anna, „wir schauen immer zurück.“

Norbert Zähringer hat seinen neuen Roman tatsächlich nach allen Richtungen hin angelegt. Nach unten, dorthin, wo die Toten ruhen. Nach oben, zu den Sternen und den kalten Räumen, die hier eine Art von Trostreservat bilden. Vor allem aber auf die Vertikale der Zeitachse hin, in die Erinnerungsräume seiner Protagonisten; auf die Rasanz des Weltenlaufs, in dem die Gleichzeitigkeit als Prinzip herrscht. Den Gedanken der allgemeinen Vernetztheit; die Grundannahme, dass alles mit allem zu tun hat, hat in der amerikanischen Literatur Thomas Pynchon in ästhetischer Perfektion umgesetzt. Norbert Zähringer wandelt ebenfalls auf diesen Pfaden; sein vorangegangener Roman „Einer von vielen“ war angelegt als ein Opus magnum, das einen Bogen vom Japan der zwanziger Jahre über das nationalsozialistische Deutschland bis ins Kalifornien der Gegenwart schlug. Das Buch scheiterte letztendlich, wenn auch im großen Stil, an seiner Überambitioniertheit. „Bis zum Ende der Welt“ ist knapper, konzentrierter – und durch und durch geglückt: ein mitreißender Unterhaltungsroman mit transzendentalem Überbau.

Es beginnt mit Anna, die nach dem Tod ihrer Großmutter vor dem gewalttätigen Vater aus Kiew fliehen will und sich an eine Vermittlungsagentur wendet. „Die Männer aus dem Westen“, so wird ihr gesagt, „lieben und pflegen ihre Hobbys. Sie sammeln exotische Pflanzen, Fische, alte Schallplatten oder Spielzeugeisenbahnen. Sie kochen, puzzeln, züchten Hunde und seltene Fische. Es hält sie jung, verhindert, dass sie melancholisch werden und zum Wodka greifen. Deshalb sind sie so erfolgreich.“ Derjenige, bei dem Anna in Berlin landet, in einem düsteren, unpersönlich eingerichteten Haus am Waldrand, ist weder erfolgreich noch jung geblieben, sondern todkrank. Sechs Monate, so Laska, gäben ihm die Ärzte noch. Als Hobby hat Anna, eingedenk eines Seminars, das sie absolviert hat, „Astronomie“ angegeben. Laskas ganzes Interesse gilt dem Himmel. So finden sie zusammen. Nicht in körperlicher Hinsicht, obgleich die sexuelle Spannung latent präsent ist, weil Anna in jedem Augenblick einen Annäherungsversuch erwartet. 20.000 Euro bietet er ihr, damit sie bei ihm bleibt. Anna ist geschäftstüchtig, clever, aber letztendlich unergründlich in ihren Motiven.

Alles fügt sich ineinander

Bei Norbert Zähringer gibt es keine Psychologie, keinen Platz für ausgeleuchtete Innenwelten. Er erzählt prägnante Szenen, er erzählt sie schnell und hart hintereinander geschnitten. Einer dieser Schnitte führt nach Portugal. Anna und Laska werden dort auch landen, später. Zunächst ist dort Yuri Fernao Gouveia, ein Polizist, benannt nach dem russischen Kosmonauten Juri Gagarin und der Neffe jenes Mannes, der 1964 am Bahnhof Köln-Deutz als millionster Gastarbeiter begrüßt und mit einem Moped beschenkt wurde; nur ein Beispiel dafür, wie die Realität einen Echoraum bildet, wie sich Zähringers fiktionales Netz über die verbürgte Historie legt. Zähringer ist ein Autor, der kolportagehafte Elemente und grelle Effekte nicht nur nicht scheut, sondern sie systematisch und immer wieder als konstitutive Elemente einbaut. Es gibt die Russenmafia und merkwürdige Entführungsszenen, den Aufseher im Kriegsverbrechergefängnis von Spandau (Annas Großvater) und eine Serie von abgetrennten Gliedmaßen, die an den Strand gespült werden.

Doch all das, so inkohärent es erscheinen mag, fügt sich ineinander, bildet eine Einheit in einem kleinen Ausschnitt des Weltgetriebes (es könnte auch jeder andere sein). Und im Mittelpunkt: Anne und Laska, miteinander verbunden in einer unausgesprochenen Form von Zuneigung, über der das nahe Ende schwebt. Ein Buch in Laskas Bibliothek trägt den Titel „Die Welt als Ganzes“. Anna greift danach und liest: „Wenn die Welt ein endliches Alter hat und das Licht eine endliche Geschwindigkeit, so kann es Teile der Welt geben, deren Licht uns während des bisherigen Weltalters noch nicht erreicht hat. Diese Teile der Welt sind für uns prinzipiell nicht beobachtbar, sie liegen außerhalb unseres Horizontes.“ Aber vorstellbar sind sie. Das ist eine Aufgabe der Literatur, die „Bis zum Ende der Welt“ wunderbar löst.

Norbert Zähringer: „Bis zum Ende der Welt“. Rowohlt, Reinbek 2012, 272 Seiten, 19,95 Euro