TATTOOS VERBINDEN NICHT NUR DIE TÄTOWIERTEN, ALLE HABEN WAS DAZU ZU MELDEN
: Wie gay ist das denn

Von Enrico Ippolito

F. hat sich endlich entschieden. Sie will sich tätowieren lassen. Vor zwei Wochen hatten F. und ich das schon einmal gemeinsam vor – doch dann brauchte sie mehr Bedenkzeit. Ich habe mir einen Anker auf dem rechten Oberarm und ein Dreieck auf dem linken Handgelenk stechen lassen. F. will jetzt einen Kreis um ihren Handgelenksknochen. An einer anderen Stelle geht es nicht – das haben wir lange und ausgiebig diskutiert. Für F. ist die Stelle wichtig, es muss Kontext haben, sagt sie immer. Was das genau heißt, weiß ich nicht.

Wir treffen uns am Samstag um vier in Neukölln beim spanischen Tätowierer unseres Vertrauens. Ich bin angeschlagen und müde, weil ich vorher bei einem Umzug geholfen habe. Drei Männer, davon zwei ein Paar, und ein kleiner Transporter voller Möbel. Muss ich mehr sagen? Na ja, wenigstens habe ich beim Antikhändler in der Urbanstraße, wo wir P.s Schrank abgeholt haben, nicht nur eine alte Cher-Platte gefunden. Sondern auch eine Lucio-Battisti-LP aus dem Jahr 1977, wo der italienische Sänger auf Englisch singt. Das mag nach nichts Besonderem klingen, machte mich aber glücklich – schon alleine wegen der Textzeile „Don’t listen if you fear and go now that she’s near“.

Auf dem Weg zum Tätowierer überlege ich, ob ich vielleicht doch auch noch ein Tattoo haben will. F. sagt ja immer, man müsse fünf Jahre warten – wegen der Sucht. Ich habe das mit der Sucht noch nicht wirklich verstanden. Außerdem bin ich ja schon mit L. zum Tätowieren im September verabredet. L. malt auch schon fleißig für mich Symbole. Ein Herz? Ein Pfeil? Ein Schlüssel? Einfach nur ein Strich? Die Idee, seinen Körper mit kleinen Symbolen zu verzieren, gefällt mir.

Vor dem Tattoostudio steht F. in ihrem schönen silbernen Mantel. Sie raucht, wirkt nervös. „Soll ich das wirklich machen?“, fragt F. Ich antworte: „Deswegen sind wir doch hier, oder?“ Das sei die falsche Antwort, sagt sie. Wir gehen trotz trotzdem rein und als F. auf dem Stuhl sitzt, ihren Arm ausstreckt und der Tätowierer anfängt zu stechen, kann ich nicht aufhören zu grinsen. Die Szene macht mich froh. Nicht weil F. Schmerzen hat, sondern weil ein gemeinsamer Besuch beim Tätowierer verbindet. Darüber hinaus haben wir uns auch noch beide geometrische Formen stechen lassen. F. den Kreis, ich das Dreieck.

Der wahre Horror beginnt aber jetzt erst für F. Nicht die Schmerzen, sondern die Reaktionen von außen. „Warum lässt man sich tätowieren?“, „Was bedeutet das Tattoo für dich?“, „Wieso gerade an der Stelle?“ „Hast du keine Angst, dass du es in zehn Jahren nicht mehr magst?“ – ob F. auf all diese Fragen vorbereitet ist? Jeder scheint eine Meinung zu haben zum persönlichen Tattoo der anderen – und behält sie auch nicht für sich. Offensichtlich wird ein tätowierter Körper zum diskursiven Allgemeingut.

Ich erzähle F. von meiner Lieblingskonversation. Vor einer Woche war ich in Paris bei L.s Ausstellung. Ich stand also da, trug schwarz (wie es sich gehört) und rauchte eine Zigarette am Fenster – an meinem rechten Oberarm war das kleine Anker-Tattoo sichtbar. „Ich wollte mir auch einen Anker tätowieren lassen“, sagt ein Freund von L. „Und warum hast du nicht“, frage ich. „Mittlerweile hat das doch jeder“, antwortet er. Aha. Fast so schön wie: „Ein Anker auf dem Oberarm? Wie gay ist das denn?!“

Ein Tattoo steht nicht für Individualität. Es geht erst mal nur um Ästhetik. Und dann wieder nicht. Etwas auf seinem Körper zu haben, das nicht zu 100 Prozent perfekt ist, ja sich sogar mit der Zeit verändert, macht etwas mit einem. Es ist beruhigend, nimmt den Druck der eigenen Perfektion. Da sind wir, F. und ich, uns einig.