Noch eine große Geste des Jacques Chirac

Zum ersten Mal gedenkt ein französischer Präsident der Massaker Frankreichs in Madagaskar 1947, ohne dass Chirac sich entschuldigt hätte. Bislang war die Tötung zehntausender Madegassen ein Tabu, über das nicht gesprochen wurde

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

58 Jahre danach hat erstmals ein französischer Präsident der Massaker in Madagaskar gedacht. Auf Staatsbesuch auf der „großen Insel“, wie die Franzosen ihre einstige Kolonie nennen, hat Jacques Chirac am Donnerstag in der Küstenstadt Mahajanga erklärt: „Man muss über diese dunklen Kapitel unserer Geschichte sprechen. Man muss die Opfer ehren, die ungerechtfertigt ihr Leben verloren haben. Man darf sie nicht vergessen.“

Im März 1947 stürmten Aufständische in Madagaskar eine französische Garnison und töteten mehrere weiße Siedler. Unter den Rebellen waren mit Macheten bewaffnete Bauern und demobilisierte Soldaten, die in den Vorjahren unter französischer Flagge an der Befreiung Europas von NS-Deutschland beteiligt gewesen waren. Nach ihrer Heimkehr wollten sie die nationale Befreiung auf ihrer Insel fortsetzen. Die Aufwertung Madagaskars zum „überseeischen Territorium“, die Paris nach Ende des Zweiten Weltkriegs vollzog, reichte den Nationalisten nicht.

Die französische Kolonialarmee schlug brutal zurück. In den Tagen, die auf den Sturm der Garnison folgten, wurden Menschen standrechtlich erschossen, andere aus französischen Militärflugzeugen ins Meer geworfen. Die Kommunistische Partei sprach von zwischen 100.000 und 150.000 Toten infolge der Repression. Die Unabhängigkeit erreichte Madagaskar erst im Jahr 1960.

Paris versuchte, die Spuren des Massakers und die Erinnerung daran auszulöschen, genau wie jene an die blutige Niederschlagung der nationalistischen Demonstration vom 8. Mai 1945 im algerischen Setif. Die beiden einzigen französischen Präsidenten, die in der Folgezeit Madagaskar besucht haben – General de Gaulle im Jahr 1958 und François Mitterrand im Jahr 1990 – erwähnten das Massaker mit keinem Wort. Die wenigen französischen Geschichtsbücher, die den März 1947 in Madagaskar behandeln, benutzen das neutrale Wort „Ereignisse“.

Die Verdrängung funktionierte beinahe perfekt. Bis heute steht nicht einmal die Zahl der Opfer der Massaker fest. Manche Historiker, darunter Jean Frémigacci, der zusammen mit Kollegen aus Madagaskar die erst vor zwei Jahren geöffneten französischen Militärarchive durchsucht, spricht von „maßlosen Übertreibungen der Kommunisten“. Nach seiner Ansicht gab es „rund 10.000 Tote durch direkte Gewaltanwendung“. Weitere 20.000 bis 30.000 Menschen – vor allem Frauen, Kinder und Alte – seien an dem darauf folgenden Elend und an Hunger gestorben. In der Pariser Zeitung Libération erklärte der Historiker gestern: „Die kann man nicht als von der Kolonialarmee getötet bezeichnen.“

Chirac hat jetzt das Schweigen seiner Vorgänger gebrochen. Ähnlich wie 1995, als er als erster Präsident eine nationale Mitverantwortung für die Deportation der Juden aus Frankreich anerkannte. Mit beiden Gesten wird der Präsident vermutlich in die Geschichtsbücher eingehen.

Freilich ist das Kapitel der franko-madegassischen Vergangenheitsbewältigung damit noch nicht abgeschlossen. Chirac hat bei seiner Erklärung während einer Pressekonferenz in Mahajanga nicht das Wort „pardon“ benutzt. Sein Gastgeber, Präsident Marc Ravalomanana, hat es auch nicht erwartet. Der zwei Jahre nach den Massakern geborene Ravalomanana erklärte: „Man kann diese Vergangenheit nicht vergessen. Aber heute befinden wir uns mit Frankreich in einer Logik der Zusammenarbeit und der bilateralen Beziehung.“ Die den Kommunisten nahe stehende Organisation „Fifanampiana Malagasy“ verlangt mehr. Sie will materielle Entschädigungen.