crime scene
: Der Persönlichkeitsdiebstahl in der Kriminalliteratur: Jonathan Smith, Patricia Highsmith, Cornell Woolrich

Persönlichkeitsdiebstahl ist die neueste Attraktion auf dem Jahrmarkt der Hysterie. In den USA gibt es bereits eine ganze Reihe von Ratgebern, in denen man erfährt, wie man sich vor dem Verlust seines „wertvollsten Besitzes“ schützt. Titel wie „Preventing Identity Theft for Dummies“ oder „Safeguard Your Identity“ reagieren auf die diffuse Angst, man könne von einem Tag auf den anderen nicht mehr Herr über E-Mail-Adresse, Kreditkartennummer und sämtliche andere personenbezogenen Datensätze sein. Im Zeitalter des Internets, könnte man meinen, wird das Ich zur leichten Beute.

Für die Kriminalliteratur ist der Persönlichkeitsdiebstahl natürlich ein verführerisches Szenario. In „Fenster zur Nacht“, einem Thriller des britischen Autors Jonathan Smith, erwischt es mit Patrick Balfour den Direktor einer angesehen Privatschule in London. Als seine Autonummer mit einer nicht bezahlten Tankstellenrechnung in Verbindung gebracht wird, sieht das noch aus wie ein leicht zu klärendes Missverständnis. Doch wenig später sucht die Polizei ihn noch mal auf. Ein Fotogeschäft hat sich gemeldet, nachdem eine Speicherkarte mit pornografischen Digitalaufnahmen von Kindern zur Weiterverarbeitung abgegeben war, und nicht nur die angegebene Adresse verweist auf Patrick Balfour: „Der Name des Kunden ist mit Ihrem Namen identisch“, erklärt ihm der ermittelnde Beamte, „und die Überwachungskamera des Geschäfts zeigt die Person, welche sie gebracht und abgeholt hat, nämlich Sie.“ Der erfolgreiche, medienpräsente Pädagoge Patrick Balfour ist dabei, ganz wörtlich sein Gesicht zu verlieren.

Spannend wird „Fenster zur Nacht“ vor allem dadurch, dass Smith über diese albtraumhafte Erfahrung hinaus noch eine zweite Ebene in die Handlung einzieht. Balfour leitet nicht nur eine Schule, sondern hat auch schon Romane geschrieben und ist mit dem Geschäft des „identity theft“ nur allzu gut vertraut: „Schriftsteller schlüpfen gerne in andere Personen.“

Dass die Grenze zwischen der vermeintlich unschuldigen Literaturproduktion und einem grausamen Verbrechen fließend verläuft, hatte unter anderem Patricia Highsmith beschrieben. In ihrem Roman „Der Geschichtenerzähler“ wird ein Schriftsteller für einen Mord verantwortlich gemacht, den er zuvor in aller Ausführlichkeit beschrieben hat, und die interessante Frage wäre nun, inwieweit sich darüber hinaus nicht nur der Autor, sondern auch der Leser an einer fiktionalen Straftat mitschuldig machen kann. Einen Persönlichkeitsdiebstahl hat wohl jeder schon einmal begangen, der sich bei der Lektüre eines Romans mit einer der Figuren „identifiziert“ hat.

Es ist darum auch kein Zufall, wenn sich Helen, die Hauptfigur in Cornell Woolrichs 1948 erschienenen Thriller „Ich heiratete einen Toten“, als Leserin an die fantasiearmen Biografien historischer Persönlichkeiten hält: „Sie mochte Dinge, die wirklich geschehen waren …, die jemand ganz anderem passiert waren, jemand, den man nie und nimmer mit ihr verwechseln konnte.“ Helen selbst ist nämlich längst zu einer Erfindung geworden: Nach einem Zugunglück schlüpft sie in die Rolle der Witwe eines der Toten, und obwohl der Schwindel mit einer Menge materieller Vorteile verknüpft ist, wird sie von der Last ihrer gestohlenen Identität erdrückt: Woolrichs Roman, der zu den heimlichen Klassikern der amerikanischen „noir fiction“ gehört, entstand in einer Zeit, als das eigene Ich noch so schwer wog, dass man ein zweites kaum ertragen konnte.

Heute dagegen ist das Ich so leicht geworden, dass man offenbar Angst davor haben muss, dass es einfach so einem anderen zufliegt. KOLJA MENSING

Jonathan Smith: „Fenster zur Nacht“. Aus dem Englischen von Sophie Kreutzfeldt. DTV, München 2005, 375 S., 15 Euro Cornell Woolrich: „Ich heiratete einen Toten“. Aus dem Amerikanischen von Matthias Müller. Diogenes, Zürich 1989, 253 S., 6,90 Euro