Zur Sonne, zur Freiheit

Ohne Hermann Scheer hätte es die Energiewende so nicht gegeben. Gestorben ist der Waiblinger Weltpolitiker vor zehn Jahren. Sein Lebenswerk ist brandaktuell.

Der SPD-Politiker und Solar-Aktivist Hermann Scheer wusste, dass es brennt, lang bevor das Wort Klima­wandel in aller Munde war. Foto: Joachim E. Röttgers

Von Josef-Otto Freudenreich↓

„Knapp sind nicht die erneuerbaren Energien, knapp ist die Zeit.“

Hermann Scheer hat diesen Satz im Jahr 2010 in seinem letzten Buch „Der energethische Imperativ“ geschrieben. Verfasst vor dem Hintergrund der eingeläuteten Energiewende, an der er selbst maßgeblich beteiligt war und ihr doch nicht traute. Er wusste, der Widerstand würde groß sein, und so fügte er einen zweiten Satz hinzu: „Der suggerierte Konsens über Erneuerbare Ener­gien lenkt davon ab, dass die eigentlichen Konflikte erst begonnen haben.“ Als hätte er Trump vorausgesehen.

Am 14. Oktober 2010 ist Scheer gestorben, überraschend mit 66 Jahren, plötzliches Herzversagen. Eine Woche vorher ist er noch auf der Bühne der S-21-Gegner vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof gestanden. Ein starkes Stück für einen Sozialdemokraten. Bei der Trauerfeier in Berlin, am 1. November, sagt Frank-Walter Steinmeier, der Feuerkopf habe Politik stets als Auftrag verstanden, eine bessere Welt zu hinterlassen. Er reiße eine „große Lücke“. In diesem Sinne hatte der heutige Bundespräsident gewiss recht, realpolitisch betrachtet nervte Scheer die GenossInnen eher, weil er für begrenztes Denken nicht zu haben war. Gerne zitierte er seinen Lieblingsautor Stanislaw J. Lec: „Man muss die Anzahl der Gedanken derart vervielfachen, dass die Anzahl der Wächter für sie nicht ausreicht.“ Oder wahlweise Albert Einstein: „Wenn eine Idee nicht zuerst absurd erscheint, taugt sie nichts.“

Man kann es sich lebhaft vorstellen, wenn der Internationalist grinsend in die Fraktion gekommen ist, frisch zurück aus Kalifornien, vom Gouverneur Arnold Schwarzenegger, der ihm „great work“ bescheinigt, und Vormann Peter Struck zur Begrüßung spottet, schön, ihn mal wieder „bei einem seiner Deutschland-Aufenthalte“ zu sehen. Schön wäre allerdings ebenso, wenn er neben seinen energie­politischen Thinktanks auch den Ortsverein Waiblingen im Auge hätte.

Mit den Denkfabriken dürfte Struck die Europäische Vereinigung für Erneuerbare Energien (Eurosolar), deren Gründer und Präsident Scheer war, gemeint haben oder die Internationale Organisation für Erneuerbare Energie (IRENA) oder das World Council for Renewable Energy (WCRE), wo er ebenfalls Vorsitzender war. Es stimmt schon: Der „Solarpapst“, ein Titel, den er nicht ablehnte, war viel unterwegs mit seiner Mission, die kein geringeres Ziel hatte, als den Menschen klarzumachen, dass es letztlich nicht nur um neue Energiequellen geht, nicht nur um sein Erneuerbare-Energie-Gesetz und das 100.000-Dächer-Programm, sondern um eine „neue Gesellschaft“. Um eine Gesellschaft, die sich über eine dezentrale Energiegewinnung freier, friedvoller, weniger vermachtet und vor allem zukunftsträchtiger entwickeln könnte.

Mal „Geisterfahrer“, mal „Windkraft-Stalinist“

So hat es Erhard Eppler formuliert, der mit dem Jüngeren schon das Wort Ökologie ausgesprochen hat, als für die anderen Energie noch aus Kohle, Öl und Atom bestand. Zusammen mit dem Juso-Chef Scheer war der SPD-Landesvorsitzende Eppler in der Mitte der Siebzigerjahre, also lange vor den Grünen, der Vorschein einer angegrünten SPD. Unschwer vorzustellen, wie mühsam das war, gegen die Betonköpfe in der eigenen Partei anzutreten, von den Filbingers der CDU (Wyhl!) ganz zu schweigen. Wie ermüdend es sein musste, gegen den Mahlstrom der deutschen Qualitätspresse anzukämpfen, die ihn bis in die 2000er-Jahre mal als „Geisterfahrer“, mal als „Öko-Fundamentalisten“, mal als „Windkraft-Stalinisten“ diffamierte.

Der Robin Hood- und Old Surehand-Fan hat es scheinbar verschmerzt mit vielen Zigaretten, Keksen und Witzen, deren Pointen er kaum mehr erzählen konnte, weil er schon vorher glucksend lachen musste wie ein Kind. Mit Anekdoten aus seiner Bundeswehrzeit, bei der er lernte, sich in den linken Graben zu werfen, wenn der Atomschlag von rechts drohte. Danach ist er ausgestiegen, zum Atomkraftgegner und Abrüstungspolitiker geworden.

Die Anerkennung fand er im Ausland, beim „Time Magazin“ in New York, das ihn 2002 zum „Hero for the Green Century“ kürte, in Stockholm, wo er den Alternativen Nobelpreis (1999) verliehen bekam, bei Ehrendoktor- und Professorwürden in Bulgarien und China, bei Fidel Castro, der ihn „Commandante Solar“ nannte. Dass diese Bilder auch in seinem MdB-Büro hingen, darf unter der Rubrik Eitelkeit verzeichnet werden, die er nicht verhehlte, so wenig wie seine Neigung zur Vollcheckerei, die ihm schon als Zehnjährigem zu eigen war, als er alle römischen Kaiser auswendig aufsagen konnte.

Nun ist der frühere Wasserballer und Fünfkämpfer immer wieder gefragt worden, wie er das aushält, dieses wenig gewürdigte Prophetendasein im eigenen Land, dieses beharrlich-unbeirrte Anrennen gegen herrschende Dogmen? Und er hat immer geantwortet, es wäre gescheiter, Politiker zu fragen, wie lange sie das noch aushalten wollten, untätig zu bleiben und die Politik für die Gesellschaft anderen zu überlassen, von denen sie den Eindruck haben, dass sie nicht das Notwendige und das Richtige tun? Oder glauben Sie, pflegte er zu kontern, dass die Amerikaner in den Golf- und Irakkrieg gezogen sind, weil dort Bananen wachsen?

Öl ist die „Energie der Monopole“, erkannte Scheer, „für deren Interessen Regierungen sogar Krieg führen“. Für ihn bleibe die einzig offene Frage, wie viele Katastrophen, Krisen und Kriege noch passieren müssten, bis endlich auf die „Energien des Volkes“ gesetzt werde? Einer wie er sei gefährlich, hat einst Gerhard Schröder zu ihm gesagt, weil er zu seinen Überzeugungen stehe. Einer wie er, erklärt Eppler, wisse sehr genau, was Macht ist, wie sie erhalten und erweitert wird.

Der vor einem Jahr verstorbene SPD-Linke dachte dabei an die Energiekonzerne, seine hessische Amtskollegin Andrea Ypsilanti nennt sie Oligopole, in ihrem Widerstand „hart und gnadenlos“. 2008 wollte sie Scheer zu ihrem Wirtschaftsminister machen. „Ypsilantis Windmacher“ titelte der „Spiegel“, ein „Dampfplauderer“, in Berlin „längst abgeschrieben“, pola­risierender „Energie-Guru“. Und Wolfgang Clement, ehemaliger SPD-Wirtschaftsminister, warnte das Volk davor, das Gespann Ypsilanti/Scheer zu wählen, andernfalls könnten im Land die Lichter ausgehen. Clement saß in dieser Zeit im Aufsichtsrat des RWE-Konzerns, der viel Geld mit den hessischen Atommeilern Biblis A und B verdiente. Wie bekannt, scheiterte das linke Projekt. Unter anderem an vier SPD-Abgeordneten, die Ypsilanti ihre Stimme verweigerten.

Wie würde Hermann Scheer wohl heute gesehen? Franz Alt hält ihn für den „erfolgreichsten Solarpolitiker der Welt“ und will seinen Kampf fortführen, unter dem Motto „Bürger, zur Sonne, zur Freiheit“. taz-Chefreporter Peter Unfried bleibt bei seiner Einschätzung, der Waiblinger Weltpolitiker sei „größer als die Beatles“. Er wäre der Größte, glaubt sein langjähriger Wegbegleiter Klaus Riedel, der viele Jahre für die SPD im Waiblinger Gemeinderat saß. 95 Prozent seiner Prognosen seien eingetroffen. Und was sagt die Partei? Soweit wahrzunehmen – nichts.