DIE GESELLSCHAFTSKRITIK
: Hungern wird todlangweilig

WAS SAGT UNS DAS? Flüchtlinge, Gefangene oder Occupy-Aktivisten: Wer ein wichtiges Anliegen hat, tritt heutzutage in den Hungerstreik. Das führt in ein Dilemma

Der Hungerstreik ist ein extremes Mittel des Protests. Die Nachricht: Mein Anliegen ist so wichtig, dass ich sogar meinem Körper Schaden zufüge. Dass ich auf das verzichte, was ich eigentlich dringend brauche. Essen, Energie. Dass ich dabei draufgehen kann. Ich mache mich schwach, um Stärke zu zeigen.

Und die Methode Hungerstreik funktioniert, mediale Aufmerksamkeit ist gewiss. Im Ausland: die ukrainische Oppositionelle Julia Timoschenko, die kremlkritischen Musikerinnen der Punkband Pussy Riot, palästinensische Gefangene. In Deutschland: Flüchtlinge in verschiedenen Städten. Missbrauchsopfer wie Norbert Denef, der im Kampf gegen Verjährungsfristen sich sechs Wochen nur von Wasser, Tee, Gemüsewasser und Limonensaft ernährte. Am Dienstag ist auch ein 38-jähriger Occupy-Aktivist in Frankfurt am Main in den Hungerstreik getreten. Weil ihr Camp geräumt werden soll.

Die Anliegen dieser Menschen verdienen meist alle Beachtung. Aber das Instrument des Hungerstreiks wird inflationär gebraucht, es verkommt zu etwas, das so aufregend ist wie das Verteilen von Flugblättern in der Fußgängerzone. Zumal ist der Hungerstreik im Jahr 2012 meist nach wenigen Tagen schon wieder vorbei. So wie bei den Flüchtlingen in Regensburg, die die Nahrungsaufnahme für ganze vier Tage verweigerten. Oder es bleibt gleich bei der bloßen Ankündigung. Und in der deutschen Wohlstandsgesellschaft wird so viel gegessen, dass viele Menschen durch Fasten Körper und Seele reinigen wollen. Hungerprotest wirkt da, vorsichtig ausgedrückt: langweilig. Von Gandhi keine Spur.

Das Protestinstrument Hungerstreik führt so in ein Dilemma. Keiner will, dass Menschen, die sich berechtigterweise für eine Sache einsetzen, am Ende sterben. Aber genau aus der Möglichkeit, dass das passieren kann, zieht der Hungerstreik seine gesamte Wirkungskraft. Ein paar Tage nichts essen – wie lange interessiert das noch jemanden? SE