Die Skandal-Grube

ASSE Wie Fahrlässigkeit der Behörden und illegale Praktiken der Betreiber dazu führten, dass jahrzehntelang in Niedersachsen an allen atomrechtlichen Vorschriften vorbei ein Atommülllager betrieben werden konnte. Die Chronik eines Skandals

Die Gesamtaktivität des Atommülls in der „Versuchsanlage“ Asse ist das Zehnfache des Endlagers Morsleben

VON JÜRGEN VOGES

Die Asse ist ein Höhenzug südöstlich der niedersächsischen Städte Braunschweig und Wolfenbüttel. Entstanden ist die Erhebung durch Salz, das in Jahrmillionen von schwerem Gestein nach oben gedrückt wurde. Begonnen wurde der Salzabbau Ende des 19. Jahrhunderts. Doch schon früh zeigten sich Schwierigkeiten: Im Jahr 1906 lief der Schacht Asse nach einem Wassereinbruch voll, 1924 musste Asse III noch vor dem Beginn der Förderung aufgegeben werden, weil Lauge in den Schacht eingedrungen war. Auch im Schacht Asse II, in dem seit 1906 Salz abgebaut wurde, hatten die Bergleute stets mit Laugenzuflüssen zu kämpfen. Bis heute wurden über 60 Zutrittsstellen gezählt.

Nach Ende des Salzabbaus wurde das Bergwerk 1964 vom Bund übernommen. Die dem Bundesforschungsministerium unterstehende Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF), das heutige Helmholtz-Zentrum, lagerte von 1967 bis 1978 im Bergwerk Asse II 124.494 Fässer mit schwach- und 1.193 Fässer mit mittelradioaktivem Müll. Die geschätzte radioaktive Gesamtaktivität: knapp acht Billiarden Becquerel, etwa zehnmal mehr als der Wert im anfangs von der DDR und dann von bundesdeutschen AKW-Betreibern genutzten Endlager Morsleben.

12.000 Liter Lauge täglich

Seit einem Jahr steht die Asse für einen der gefährlichsten Umweltskandale Deutschland. Der in 13 unterirdischen Kammern des Bergwerks lagernde Müll gilt als atomare Altlast. Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) schätzt die Sanierungskosten auf zwei bis vier Milliarden Euro. Das Bergwerk Asse II ist einsturzgefährdet. Seit Jahren fließen in die Grube täglich etwa 12.000 Liter Salzlauge. Unter Tage sind die Decken alter Abbaukammern eingebrochen. Ganze Partien des Bergwerk haben sich verschoben. Tragende Pfeiler, die man beim Salzabbau stehen ließ, haben große Risse.

Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), das die Verantwortung für die Altlast zum Jahresanfang übernommen hat, hält die Grube bis zum Jahr 2020 für standsicher – vorausgesetzt, der seit Jahren konstante Zufluss von Lauge erhöht sich nicht weiter. Das wiederum können die von dem Amt konsultierten Fachleute nicht garantieren. Denn niemand weiß, woher die täglich 12.000 Liter Salzlauge kommen.

Das Bundesamt muss daher derzeit mehrgleisig vorgehen: Einerseits bereitet es Notfallmaßnahmen vor, die bei einem plötzlichen Absaufen der Grube die Umweltschäden in Grenzen halten sollen. Parallel dazu sollen Stabilisierungsmaßnahmen unter Tage die unmerkliche Bewegung des Grubengebäudes verlangsamen oder stoppen.

Dazu werden Hohlräume in den alten Abbaukammern mit Salzbeton verschlossen. Diese Kammern wurden zwar bereits vor Jahren mit Abraumsalz gefüllt. Das jedoch sackte später zusammen und reicht nicht mehr bis zur Decke der Kammern und hat daher keine stabilisierende Wirkung. In die unter der Decke entstandenen Hohlräume wird Salzbeton gepumpt, um eine stabilisierende Masse zu erzeugen.

Damit will man Zeit für die eigentliche Sanierung der atomaren Altlast gewinnen. Gegenwärtig prüft das BfS für die Sanierung drei Alternativen. Das Bergwerk könnte erstens ganz mit Beton gefüllt werden, um so einen Kontakt des Atommülls mit Lauge oder Wasser zu verhindern. Zweitens könnte der Atommüll innerhalb des Salzstocks umgelagert werden, wofür man unterhalb der Grube quasi ein weiteres Endlagerbergwerk errichten müsste. Drittens könnte man die 13 Atommüllkammern ausräumen und den Müll ins Endlager Schacht Konrad bringen.

Derzeit bezeichnet das Bundesamt die Einleitung eines Planfeststellungsverfahrens nach dem Atomgesetz, das eine Umweltverträglichkeitsprüfung und die Beteiligung der Öffentlichkeit vorsieht, für die immerhin gut 40 Jahre alte Anlage noch als „ein großes Ziel“. Ein atomrechtliches Verfahren, das es für das Atommülllager Asse nie gegeben hat, würde den Anwohnern die gleichen Rechte garantieren wie den Nachbarn anderer Atomanlagen – schließlich waren es Bürgerinitiativen und Kommunalpolitiker, die im vorigen Jahr dafür sorgten, dass der Asse-Skandal öffentlich wurde.

Ein Endlager, das keins ist

Die offizielle Bezeichnung der unterirdischen Atomanlage in der Asse wechselte im Laufe der Jahrzehnte. Zunächst galt Asse II als normales Endlager, später als Versuchsanlage oder auch als Versuchsendlager. Der Versuchscharakter der Anlage wurde gern in Debatten mit Anwohnern betont, um deren Bedenken zu zerstreuen. Heute bezeichnen die Medien die atomare Altlast in der Regel neutral als Atommülllager. Ob die Asse tatsächlich ein Endlager bleibt, wird erst mit der Art der Sanierung entschieden.

Verantwortlich für die Einrichtung des Endlagers Asse war in den Sechzigerjahren das Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, das vormalige „Ministerium für Atomfragen“. Ein Genehmigungsverfahren mit Beteiligung der Öffentlichkeit gab es nicht. Der Historiker Detlev Möller, der die im Bundesarchiv lagernden Akten des Ministeriums ausgewertet hat, konnte keine schriftliche Zustimmung des damaligen Ministers Gerhard Stoltenberg zur Errichtung des ersten deutschen Atommüllendlagers finden. Der CDU-Politiker hat das Vorhaben aber wohl mündlich gebilligt.

Die Beamten aus dem Hause Stoltenberg informierten 1965 den zuständigen Bundestagsausschuss über die Absicht, die Asse als „Endlager radioaktiver Rückstände herzurichten“. Dabei wollte man „nach eingehendem Studium aller Sicherheitsaspekte“ schrittweise vorgehen und die radioaktiven Abfälle erst „zu Versuchszwecken“ und dann „zur Endbeseitigung“ einlagern.

Nach der ersten Besichtigung des Bergwerks im Jahr 1964 lobten Beamte des Ministeriums vor allem den niedrigen Kaufpreis von nur 600.000 Mark. Zur Sicherheit bemerkten sie skeptisch, es bestehe „wohl keine akute Gefahr“. Beim zuständigen Oberbergamt im Clausthal-Zellerfeld bestand 1965 nach der Übernahme des Bergwerks die Sorge, „dass die Asse früher oder später Opfer eines Laugeneinbruchs wird“. Alle Sicherheitsbetrachtungen gingen seinerzeit davon aus, dass auf lange Sicht „kein Raum der Grube trocken bleibt“. Dennoch kam ein Gutachten zu dem Schluss, dass selbst beim größten anzunehmenden Unfall, einem plötzlichen Wassereinbruch, ein Austritt radioaktiver Stoffe ausgeschlossen sei.

Dabei war ausdrücklich auch die „Einlagerung hochaktiver Abfälle“ geplant. So stellte das Ministerium der Siemens AG in Aussicht, „Fässer mit hochradioaktivem Abfall (Kernbrennstoff)“ in der Asse einzulagern. Dazu kam es zwar nicht. Jedoch stammte der mittelaktive Müll, der in den Siebzigerjahren eingelagert wurde, größtenteils aus der Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe und umfasste auch Metallteile abgebrannter Brennelemente, die heute als hochaktiver Abfall gelten könnten.

Bis 1973 wurde die Asse als Endlager bezeichnet. Seinerzeit ging der Bund davon aus, dass die Grube bis zum Jahr 2000 rund 250.000 Kubikmeter radioaktive Abfälle aufnehmen werde. Tatsächlich waren es bis zur Beendigung der Einlagerung 1978 knapp 47.000 Kubikmeter.

Im Jahr 1974 änderte sich die Sprachregelung: Offiziell galt die Asse nun als „Versuchsanlage“. Zwei Jahre später trat, schon unter dem Eindruck der mit der Bauplatzbesetzung in Wyhl und den Protesten in Brokdorf beginnenden Anti-AKW-Bewegung, ein neues Atomgesetz in Kraft, dass erstmals auch die Entsorgung regelte und für ein Endlager ein Planfeststellungsverfahren verlangte.

Als Ende des Jahres 1978 die lediglich nach Strahlenschutzverordnung erteilten Genehmigungen für die Asse ausliefen, verlangte der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) für die weitere Einlagerung von Atommüll sehr zum Ärger des Bundes ein solches Planfeststellungsverfahren. Dieses wurde vorbereitet, aber nie durchgeführt. Damit endete die Einlaggerung von Atommüll im Bergwerk Asse II.

Nicht genehmigungsfähig

In den Achtzigerjahren wurde das Bergwerk vor allem als Forschungsstätte für die nun in Gorleben geplante Deponierung hochradioaktiven Mülls genutzt. Es gab etwa mit beheizten Attrappen abgebrannter Brennelemente Versuche zum Verhalten von Salz, das ja durch hochaktiven Müll stark erwärmt wird. Zudem wurden unterhalb des Bergwerks Asse II zusätzliche Stollen errichtet, um das wasserdichte Verschließen von Endlagerteilen mit Salzbeton zu erproben – schließlich wären auch in einem Endlager im Salzstock Gorleben Lauge und Wasser die größten Feinde einer sicheren Deponie.

Den für das Bergwerk Asse II zuständigen Ministerialbeamten und Bergbauexperten waren die dortigen Probleme mit Laugenzuflüssen von Anfang an bekannt. Sie gingen stets von einem späteren Absaufen des Salzbergwerks aus. Möller zufolge wurde von Anfang an „das Volllaufen der Grube billigend in Kauf genommen“.

1983, fünf Jahre nach dem Stopp der Einlagerungen, gelangte die Gesellschaft für Strahlenforschung zu der Erkenntnis, dass ein Planfeststellungsverfahren für ein Endlager Asse undurchführbar war. Die Grube war nach Atomrecht nicht genehmigungsfähig. Konsequenzen für den bereits eingelagerten Atommüll zog man aus dieser Erkenntnis nicht.

Schon 1988 begannen in dem Bergwerk jene Laugenzuflüsse, die bis heute nicht gestoppt werden konnten. Ab 1998 erhöhte sich der Zufluss auf die täglich einströmenden 12.000 Liter pro Tag. Ernsthafte Probleme bereiteten auch alte, sehr feuchte Versatzmaterialien, mit denen Abbaukammern schon während der Salzgewinnung gefüllt worden waren. Nach Angaben des BfS sind sie wahrscheinlich der Ursprung von Laugen, die bereits direkt mit Atommüll in Kontakt gekommen sind. Diese Laugen traten wiederholt vor der Einlagerungskammer 12 aus und waren zum Teil hoch mit radioaktivem Cäsium belastet.

Der Betreiber entsorgte die Cäsiumlauge jahrelang ohne die erforderliche Genehmigung. Die Lauge wurde in die tiefsten Bereiche des Bergwerkes eingeleitet, die man in den Achtzigerjahren für Endlagerversuche geschaffen hatte und nun mit Versatz füllte. Mittlerweile sind Teile dieser illegal entsorgten Cäsiumlauge wieder in offene Räume der Grube gedrückt worden.

Die illegale Laugenentsorgung war schließlich der Auslöser des Asse-Skandals. Der frühere Betreiber, der sich inzwischen von GSF in Helmholtz-Zentrum umbenannt hatte, trat Anfang Januar die Verantwortung für die Altlast an das Bundesamt für Strahlenschutz ab. Erst seither gelten für das über 40 Jahre lang nach Bergrecht betriebene Atommülllager atomrechtliche Vorschriften.