Jeder Bissen ist politisch

GROSSSTADTGEMÜSE Essen braucht mehr Wertschätzung. Deshalb will Lynn Peemoeller die Landwirtschaft im Bewusstsein und im Alltag der Großstadtbewohner verankern. Ein Porträt der Food-Systems-Planerin

Man müsse lernen, auf gewisse Dinge auch mal zu verzichten, findet Lynn

VON FATMA AYDEMIR

Möchte man sich ein Bild des zeitgemäßen Großstadtlebens ausmalen, ist da wenig Platz für selbst gezüchtete Cocktailtomaten und frischen Thymian. Hastig läuft der moderne Mensch die Straße runter mit dem Smartphone in der Hand und drückt sich einen Burger rein, um weiter funktionieren zu können. Doch wie konnte eines der bedeutendsten Dinge des Menschseins, Essen, nur zur lästigen Nebensache werden?

Lynn Peemoeller findet keine Antwort: „Ohne darüber nachzudenken, stopfen die Leute irgendwelches Zeug in sich rein, und zehn Jahre später fragen sie sich, warum sie dick sind und sich so schlecht fühlen.“ Lynn ist freiberuflich Food Systems Planner. Was das genau bedeutet, erklärt sie bei einer heißen Minze im Prenzlauer Berg. Vor zwei Jahren zog die gebürtige Amerikanerin mit ihrem Ehemann von Chicago nach Berlin.

Seit Langem beschäftigt sich Lynn Peemoeller mit einem Kreislauf, der sich Food System nennt. Dieser Kreislauf umfasst vom Samen einer Pflanze bis hin zur Distribution der Lebensmittel an Supermärkte den gesamten Weg unserer Nahrung und schließt sich im Idealfall mit dem Verzehr. In der Realität landet aber ein großer Teil wieder im Abfall. Ein Planner entwickelt Möglichkeiten, diese Verschwendung zu umgehen. Da prinzipiell jeder (essende) Mensch an diesem Food System beteiligt ist, stellt das Arbeitsfeld ein offenes Netz aus interdisziplinären Bereichen dar, unter anderem aus Ökologie, Politik und Wirtschaft.

Quellen kennen

„Mir geht es darum, Klarheit zu schaffen, wo unser Essen herkommt, und wo es hingeht“, sagt Lynn, die sich auf Umwelt, Landwirtschaft und vor allem Stadtplanung spezialisiert hat. Sie selbst ist in der Metropole New York aufgewachsen. Doch während ihres Geologiestudiums fing Lynn an, in den Ferien auf Farmen zu arbeiten. Danach brach sie auf nach Asien, um die Landwirtschaft in Thailand und Vietnam kennenzulernen. „Wenn man sich mit Nahrung beschäftigen möchte, dann sollte man zu aller erst lernen, wie Pflanzen gezüchtet werden.“

Auf Events wie etwa dem BMW Guggenheim Lab gibt Lynn Peemoeller dieses Wissen in Workshops weiter. Einkaufswagen werden zu mobilen Kleingärten umfunktioniert, und jeder Teilnehmer darf am Ende seinen eigenen urban garden nach Hause rollen. So kommen auch Großstadtbewohner in den Genuss selbst angebauter Früchte. Doch ist dies nur ein kleiner Teil von Lynn Peemoellers großem Eigenauftrag: Sie möchte Menschen die Natürlichkeit und Kostbarkeit von Lebensmitteln so nahe bringen, dass Nahrung nicht als kurzweiliges Konsumgut, sondern als zuwendungsbedürftiger Lebensbestandteil wahrgenommen wird.

Dieses Bewusstsein fördert auch das von Lynn selbst entworfene Lernspiel „Rations“. Anhand verschiedener Zukunftsszenarien, die Lebensmittelknappheit thematisieren, entwickeln die Spieler eigene Nachhaltigkeitsvisionen und fügen sie zu einem großen Plan zusammen.

Das eigentliche Spezialgebiet von Lynn Peemoeller ist die Reintegration der Landwirtschaft in das Stadtbild. Von der Stadt Chicago wurde sie beauftragt, leerstehende Flächen der Innenstadt in urbane Gemüsefelder zu verwandeln. Zwar war die Resonanz großartig, doch musste das Projekt schon nach eineinhalb Jahren neuen Bauplänen weichen: „Natürlich ist ein Garten in der Großstadt kurzlebig, wie alles andere auch. Aber das macht nichts, man muss dran bleiben und immer neue Flächen bepflanzen.“

Die Bauern von Chicago

Als Organisatorin verschiedener Farmers Markets in den USA, hat Lynn Peemoller sich auch intensiv mit dem Verkauf von Landwirtschaftsprodukten beschäftigt. Im Vergleich fiel ihr auf, dass sich der Anspruch deutscher Märkte von dem der amerikanischen Farmers Markets erheblich unterscheidet. In Chicago verkaufen Bauern nur ihr selbst angebautes Gemüse und Obst auf den Markets, das wird durch strikte Auflagen geregelt. „In Berlin werden meist vom Großhändler eingekaufte, importierte Waren weiterverkauft und nur um wenige regionale Produkte wie Kürbis und Rhabarber ergänzt.“

Ihr ist klar, dass das deutsche Wetter für das Züchten von Avocados nicht geeignet ist. Doch müsse man lernen, auf gewisse Dinge auch mal zu verzichten, oder zumindest anfangen, saisonal zu denken, findet Lynn.

Was Lynn an Deutschland hingegen sehr schätzt, sind die Herkunftsangaben der Lebensmittel. So habe jeder die Wahl zwischen importierten und regionalen Produkten. Der Neuberlinerin fällt diese Wahl nicht schwer, sie muss fast lachen: „Warum bitte soll ich Birnen aus Argentinien essen, wenn ich frische Erdbeeren aus Brandenburg haben kann?“