Diese Wut im Bauch

Zwei Brüder haben in Ahrensburg eine Lehrerin getötet. Der Ältere hat die Tat gestern vor dem Lübecker Landgericht gestanden und mit einem Konflikt begründet, der sich seit Monaten in der Klasse 10c der Realschule abgespielt haben muss. Staatsanwaltschaft hat beide wegen Mordes angeklagt

aus Lübeck Elke Spanner

Der eine kaut lässig Kaugummi, der andere senkt verschämt den Blick zu Boden. In einer Pause lacht Vitali einmal auf, während Alex sich allenfalls zu einem kleinen Lächeln durchringt. Der große Bruder ist derjenige, der bei den beiden den Ton angibt. Auch bei dem Mord, der den beiden vorgeworfen wird, will Vitali O. gehandelt und den kleinen Bruder nur mitgezogen haben. Gestern hat der 21-Jährige vor der Jugendstrafkammer des Lübecker Landgerichtes gestanden, am 16. Januar die Realschullehrerin Isolde F. in ihrer Wohnung in Ahrensburg mit Messerstichen getötet zu haben. Sein kleiner Bruder, behauptete er, war nur dabei, er allein habe das Messer geführt. Die Staatsanwaltschaft hingegen hat beide wegen Mordes angeklagt. Alex O. schweigt.

Der Bluttat zugrunde liegt eine Geschichte, in der jeder Beteiligte mal als Täter, mal als Opfer erscheint. Außer Frage steht nach dem Geständnis, dass die Brüder die Deutsch-Lehrerin von Alex O. am Abend des 16. Januar gegen 22 Uhr in ihrer Wohnung aufgesucht und getötet haben. Fest steht aber auch, dass dem ein monatelanger Konflikt in der Klasse 10c des Ahrensburger „Schulzentrums Am Heimgarten“ vorausgegangen ist, in dem Alex oft der Provokateur, manchmal aber auch der Provozierte war.

Der 18-Jährige wollte als Berufssoldat zur Bundeswehr. Von der Verwirklichung seines Wunsches trennte ihn nur noch eine Note: Alex hatte eine Fünf in Deutsch. Seit Monaten hatte er um ein besseres Zeugnis gerungen, mit sich selbst im Kampf um Disziplin, irgendwann dann auch mit seiner Lehrerin Isolde F. „Wegen schlechter schulischer Leistungen kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen“, formuliert es vorsichtig der Staatsanwalt. Vitali O. findet andere Worte dafür: Er habe seinen kleinen Bruder unter der Lehrerin „leiden sehen“, lies er über seinen Anwalt verlesen. „Alex ist seit Monaten schikanösen Handlungen der Lehrerin ausgesetzt gewesen.“

Ihr Todesurteil fällte die ahnungslose 55jährige in einer Situation, die sich kurz vor der Tat abgespielt haben soll. Nach einem lautstarken Streit vor der ganzen Klasse am Vortag hatte Alex O. sich offenbar auf Drängen seiner Mutter kleinlaut bei der Lehrerin entschuldigt – und die hatte ihn vor versammelter Klasse abblitzen lassen und die Entschuldigung ausgeschlagen. Alex hat seinem großen Bruder davon erzählt, unter Tränen, und der wollte dessen verzweifelter Situation endlich ein Ende bereiten. „Sie hat ihn erneut gedemütigt“, erklärt Vitali O. seinen Entschluss, Isolde F. in ihrer Wohnung aufzusuchen.

Es ist schwer, im nachhinein ein Urteil darüber zu fällen, was genau sich in der Klasse 10c abgespielt hat. Das Gericht wird es versuchen, indem es viele der Schüler als Zeugen vorlädt und zum Geschehenen befragen wird. Die Schwierigkeit wird darin liegen, die Tat zu verstehen, ohne die Rollenverhältnisse aus dem Blick zu verlieren. „Hier sollen keine Dinge beschönigt oder das Ansehen von Isolde F. beschädigt werden“, sagte auch der Rechtsanwalt Thomas Elvers, als er für Vitali O. das Geständnis verlas. „Es geht darum, eine Wut zu erklären, um die es in diesem Verfahren geht.“

Wie lange die beiden Brüder, die 1996 aus der Stadt Petropawl in Kachastan nach Deutschland gekommen sind, im Gefängnis bleiben werden, entscheidet die Antwort auf die Frage, ob sie den Tod von Isolde F. geplant haben oder ihnen die Situation in der Wohnung der Lehrerin „aus dem Ruder gelaufen ist“. So beschreibt es Vitali O. Seiner Darstellung zufolge wollten sie Isolde F. nur einschüchtern und ihr dafür „ein paar Schläge versetzen“. Offenbar hat sein 18jähriger Bruder ihn im Restaurant Strehl abgeholt, in dem Vitali O. eine Lehre als Koch machte. Von dort nahm er laut Anklage ein Fleischermesser mit. Gegen 22 Uhr, es war ein Sonntagabend, klingelten sie an der Tür der Lehrerin. Er brauche ihre Hilfe, sprach Alex O. in die Gegensprechanlage, und Isolde F. öffnete die Tür. Vor der Wohnung dann sei es zu einer Auseinandersetzung gekommen, behauptete Vitali O: Die Lehrerin habe es als Frechheit empfunden, in ihrer Freizeit von den Brüdern behelligt zu werden, und ihren Unmut gegenüber Alex O. angeblich mit der Bemerkung kundgetan: „Du bist ein Verlierer, das mit der Bundeswehr kannst du vergessen.“ Da will der große Bruder ausgerastet sein. „Hör auf, meinen Bruder zu schikanieren“, will er gerufen haben, als er die Lehrerin mit einem Schlagring ins Gesicht niedergestreckt und mit Messerstichen in den Oberkörper getötet hatte. „Beide Brüder können sich heute nicht mehr erklären, wie es dazu kommen konnte“, sagt Rechtsanwalt Elvers.

Er hofft, dass sein Mandant nicht wegen Mordes, sondern Totschlags verurteilt wird. Dann könnte er nach Jugendstrafrecht mit einer Freiheitsstrafe um die sechs Jahre davonkommen. Auf Mord hingegen steht nach Jugendstrafrecht zehn Jahre Haft. Die Staatsanwaltschaft hält an ihrer Überzeugung fest, dass nicht allein der große Bruder die Verantwortung für das Geschehen trägt, der jüngere Alex O. nicht nur der kleine Mitläufer war. An dem Schlagring, der sichergestellt werden konnte, fand die Polizei DNA-Spuren von beiden Angeklagten. Und „wir haben Anhaltspunkte dafür, dass beide Angeklagte am Tatort auch agiert haben“, sagte der Staatsanwalt am Rande des Prozesses. Er ist davon überzeugt, dass die Brüder einen geplanten Mord begangen haben.

Selbst dem Leiter der Realschule, Heiner Bock, war bekannt, dass es in der Klasse 10c zwischen Alex O. und Isolde F. Probleme gab. Nachdem der Schüler am 21. Januar verhaftet worden war, hatte der Direktor sich daran erinnert, dass es vor längerer Zeit eine „lautstarke Auseinandersetzung“ gegeben habe. So etwas aber, sagte Bock, „gehört zum Schulgeschäft“.

Der Prozess gegen Alex und Vitali O. wird am 8. August vor dem Lübecker Landgericht fortgesetzt