Die ganze Stadt im Blick

Gemeinsames Wohnen zu erschwinglichen Mieten: Die 1920er-Jahre hatten auf die Frage, wie wir wohnen und bauen sollten, konkrete und erfolgreiche Antworten. In Hamburg klappte die Reform des Wohungsbaus besonders gut. Das zeigt eine neue Publikation

Ein soziales Leben: Spiel- und Sportangebote dachte Hamburgs Oberbaudirektor Fritz Schumacher wie hier in Dulsberg von Beginn an mit Foto: BSU HH

Von Bettina Maria Browosky

Es mangelt nicht an Ausstellungen zu einem Perspektivwechsel im Wohnbau: Hin zu mehr, hin zu grünerem und vor allem zu bezahlbarem Wohnraum. „Neue Standards. Zehn Thesen zum Wohnen“ des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten BDA etwa tourte ab 2016 mit baupraktischen Handreichungen durch Deutschland wie Österreich, mit Station in Wolfsburg und Bremen. 2017 schloss mit „Together! Die Neue Architektur der Gemeinschaft“ eine Schweizer Themenschau an. Sie stellt, derzeit in Hamburg, soziale Wohnideale gegen eine (gern unterstellte) individuelle oder familiäre Vereinzelung im klassischen Wohnbau. Die Berliner Fachzeitschrift Bauwelt thematisierte in einem ihrer letzten Hefte „den Stumpfsinn im Geschosswohnungsbau“ und fragte: Sollen Grundrisse wieder eine Rolle spielen?

So sinnvoll wie ehrenwert solche Denkanstöße sind, kneifen sie aber vor der Kernfrage: Welche echten und praktikablen Alternativen gibt es zum vorherrschenden renditeoptimierten Wohnungsmarkt in den Händen teils globaler Investoren? Mit Vonovia und Deutsche Wohnen sind zwei Wohnungskonzerne im Deutschen Aktienindex Dax, sie zählen also zu den 30 wichtigsten und liquidesten Kapitalgesellschaften hierzulande. Beide entstanden nach 1990, als unter neoliberalen Vorzeichen kommunale und gemeinnützige Wohnungsgesellschaften ihre oft mehrere Tausend Wohnungen umfassenden Bestände veräußerten. Deutsche Wohnen ist mit internationalen Fondsgesellschaften wie Blackrock verflochten, aber auch chinesische Staatsfonds sind auf dem hiesigen, lukrativen Wohnungsmarkt aktiv, so der Berliner Fachpublizist Klaus Englert.

Wohnungen für Millionen

Größten Respekt kann einem da nur das immense, sozialpolitisch programmierte Wohnbauvolumen der 1920er-Jahre, somit in ökonomisch angespannten Zeiten, abnötigen, das Kommunen, Siedlervereine, Genossen- und auch Gewerkschaften bewältigten. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg fehlten in Deutschland 800.000 Wohnungen, denn Wohnbau unterlag, wie heute, der Privatwirtschaft. Als nach 1918 eine Million Menschen aus abgetretenen Gebieten zuströmten, wuchs der Fehlbedarf auf über eine Million.

Das 100-jährige Bauhaus-Jubiläum nahm 2019 die Kraftanstrengung der Zwischenkriegsjahre erneut in den Blick. Berlin weiß mit zahlreichen Unesco-Welterbe-Siedlungen aufzutrumpfen, unabhängig davon, dass etwa die Hufeisensiedlung Britz oder die Siemensstadt ironischerweise nun Deutsche Wohnen gehören. Die Stadt Frankfurt widmete ihrem Erbe gleich drei Ausstellungen, um „Das neue Frankfurt“ in kulturgeschichtlicher Bandbreite zu zeigen.

In Hamburg rekapitulierte das Altonaer Museum den Beitrag der bis 1937 eigenständigen Stadtgemeinde, betonte ihre vorbildlich vorausschauende Bodenpolitik seit dem späten 19. Jahrhundert. Nun liegen mit der Publikation „Hamburger und Altonaer Reformwohnungsbau der 1920er Jahre“ 17 kontextualisierende Beiträge einer Fachtagung vor, auch sie fand 2019 statt.

Reform der gesamten Stadt

Weder den Hamburger Wohnungsbau der Zwischenkriegszeit, maßgeblich geprägt vom 1909 in die Hansestadt berufenen, ab 1923 als Oberbaudirektor mit umfassender Zuständigkeit ausgestatteten Fritz Schumacher (1869–1947), noch den seines Altonaer Amtskollegen Gustav Oelsner (1879–1956) zählen Ar­chi­tek­tur­his­to­ri­ke­r:in­nen zur „Moderne“. Diese wird, viel zu stereotyp, an formalen Markenzeichen wie kubisch reduzierten, hell verputzen Architekturen mit Flachdach festgemacht, im Wohnungsbau lieber als linearer Zeilenbau denn als geschlossener Baublock.

Allein schon wegen seines charakteristischen Auftritts in Klinkermauerwerk aller erdenklichen Rot-, Violett- bis Blauschattierungen gilt das gesamthanseatische Wohnbauschaffen als „unmodern“, schnell wird so auch sein Innovationspotenzial unter dem Verdikt einer Traditionsverhaftung verkannt. Dabei bräuchte sich sowohl seine Produktivität – allein in Hamburg waren es 65.000 Wohnungen, in beiden Städten flankiert durch ein umfangreiches Bauprogramm im Bildungs- und Sozialbereich sowie mit Stadtpark und Altonaer Volkspark zwei großen kommunalen Grünanlangen – als auch seine stadtreformerische Durchschlagskraft sowie die (Gebrauchs-) Wertschätzung bis heute nicht hinter Berlin oder Frankfurt zu verstecken. Zum Vergleich: am Main waren es „nur“ etwa 12.000 Wohnungen in 25 Trabantensiedlungen und Hausgruppen, die allerdings weltweit werbewirksam publiziert wurden.

Fritz Schumacher war kulturpolitischer Motor Hamburgs, sein Schaffen reichte vom Bühnenbild bis zur Regionalplanung, von Städtebau und Architektur bis zu literarischen Studien über Shakespeare und Goethe. Er reagierte auf den ungesunden Wohnungsbestand mit einem Bauprogramm, das jedoch die Reform der Gesamtstadt, nicht Einzelmaßnahmen am Stadtrand zum Ziel hatte. Er setzte moderne Techniken wie Rundflüge und Luftbilder ein, auch um vorhandene Defizite zu identifizieren.

Aber nur im Notfall sollte die Kommune als Bauherr einspringen, wie unmittelbar nach 1918 mit der Kleinhaussiedlung Langenhorn und am Dulsberg, ein Projekt noch aus Kaiserzeiten. Hier zeigte sich Schumachers Methode: Den im Geiste spekulativer Verdichtung erstellten Ingenieursplan transformierte er in vielen Einzelschritten in eine städtische Baustruktur moderater Höhe und Dichte, statt des wilhelminischen Schmuckplatzes sah er einen Grünzug mit Spiel- und Sportangeboten vor – bei konstanter Zahl der Wohnungen. Schumacher war Visionär und Pragmatiker, Reformer und Realist, denn „eine Reform, welche die Wohnungen verteuert, ist keine Reform“, so sein Credo im Beitrag von Dirk Schubert.

Nach Einführung der Hauszinssteuer auf private Bestandsbauten, die dank der Inflation 1923 in kürzester Zeit schuldenfrei waren, sah Schumacher die Aufgabe der Kommune, den Bau kleiner Wohnungen zu erschwinglichen Mieten zu fördern: Durch günstige Darlehen, Grundstücke in Erbpacht und ein straffes Mietrecht. So entstanden neue Stadtquartiere in Barmbek oder Ersatzbebauungen auf der Veddel und ab 1926 die vielleicht bekannteste Realisierung Hamburgs aus der Zeit, die Jarrestadt nahe dem Stadtpark. Schumacher formulierte ein Baumassen- und Erschließungskonzept, weitere Konkretisierungen ergab ein Architektenwettbewerb – mit 214 Beteiligungen. Zehn Architekten einschließlich des siegreichen Karl Schneider (1892–1945) bildeten eine Projektgemeinschaft, der es trotz individueller Zuständigkeit für einzelne Abschnitte gelang, einen homogenen Stadtteil zu schaffen – der als Werk Schumachers gesehen wird.

Aufgebrochene Wohnblöcke

Der vielbeschäftigte Schneider gilt übrigens der Baugeschichte als „modern“, nicht zuletzt dank seiner Einladung zur Bauhaus-Leistungsschau 1923 in Weimar durch seinen Mentor Walter Gropius. Schneider löste Ecken der Blockstrukturen mit Sonderelementen auf, seine betont flächigen Fassaden wurden durch eingeschnittene Treppenhäuser oder Übereckfenster rhythmisiert, er setze Putzflächen ein für Balkonbänder oder lichte Hofinnenseiten. Auch unter Gustav Oelsner baute er in Altona, dort war die Kommune Bauherr für kleinere Ensembles. Sie bevorzugte die Wohnküche mit angeschlossenem Balkon, während in Hamburg auch mit Zentralküchen zur Entlastung der berufstätigen Frau experimentiert wurde. Schumacher und Oelsner wurden 1933 zwangspensioniert, Oelsner 1949 aus dem Exil als Referent für den Wiederaufbau Hamburgs zurückberufen. Schneider emigrierte 1938 in die USA, konnte aber nicht mehr als Architekt Fuß fassen.

Aktuelle Diskurse entdecken nun „Die Bodenfrage“ wie der BDA in Berlin oder als „Boden für Alle“ im Architekturzentrum Wien – in Ausstellungen. Die 1920er-Jahre hatten darauf konkrete Antworten.

Hamburger und Altonaer Reformwohnungsbau der 1920er Jahre. Hrsg. Dirk Schubert und Peter Michelis, Schriftenreihe des Hamburgischen Architekturarchivs, Band 41, Dölling und Galitz, 340 S., 39,90 Euro