„Frühe Therapie ist der beste Opferschutz“

Sexuell gewalttätige Kinder und Jugendliche sollten nicht „weggeschlossen“, sondern qualifiziert behandelt werden, meint die Psychologin und Gutachterin Sabine Nowara. Dafür gebe es inzwischen in NRW zahlreiche Angebote

taz: Frau Nowara, Ihr Abschlussbericht über das NRW-Modellprojekt zu Hilfen für jugendliche Sexualtäter wird jetzt vom Ministerium veröffentlicht. Was war der Anlass für das 2001 gestartete Projekt?

Sabine Nowara: Zum einen sind die zwei Beratungsstellen in NRW, die schon damals zum Thema sexuell übergriffige Kinder gearbeitet haben, immer wieder auf Kinder und Jugendliche gestoßen, die Sexualdelikte begangen hatten. Für solche Fälle sollten Behandlungsmöglichkeiten geschaffen werden. Zum anderen hat sich in der Forschung die Erkenntnis durchgesetzt: Je früher man sexuelle Auffälligkeiten behandelt, desto besser. Denn wenn man in die Biographien von erwachsenen Sexualstraftätern schaut, stellt man fest, dass viele schon in sehr jungen Jahren ihre ersten einschlägigen Delikte begangen haben.

In Ihrem Bericht schreiben Sie, dass die Zahl der tatverdächtigen Kinder in den letzten Jahren signifikant gestiegen ist. Wie erklären Sie sich das?

Es ist erst in den letzten Jahren eine Sensibilisierung dafür entstanden, dass auch strafunmündige Kinder unter 14 Jahren schon Sexualdelikte begehen können. Das kennen wir ja auch in anderen Bereichen. Als wir angefangen haben, über sexuellen Missbrauch öffentlich zu sprechen, ist auch die Anzeigefreudigkeit gestiegen. So verzeichnen wir jetzt zwar diesen zahlenmäßigen Anstieg, aber ob der tatsächlich einem realen Anstieg entspricht, wissen wir schlichtweg nicht genau. Er ist auf jeden Fall ein Alarmsignal.

Wie definieren Sie sexuelle Gewalt von Kindern, was unterscheidet sie von Doktorspielen?

Ein Doktorspiel findet statt zwischen zwei gleichaltrigen Kindern. Es geht darum, gegenseitig den Körper zu erkunden: Hat das andere Kind auch so ein Geschlechtsteil wie ich oder sieht es anders aus? Dagegen redet man von einen sexuellen Übergriff, wenn ein Altersunterschied von mindestens fünf Jahren besteht, wenn etwa ein 12-Jähriger „Doktorspiele“ mit einem Fünfjährigen macht. Außerdem sind bei einem Übergriff Manipulation, Zwang oder Drohungen im Spiel. Und es gibt häufig Verletzungen beim Opferkind.

Manche Experten behaupten aber, dass es auch schon ältere Kindergartenkinder gibt, die sexuell gewalttätig werden.

Ich wäre sehr vorsichtig, das als sexuellen Missbrauch zu bezeichnen. Sicher gibt es körperliche Übergriffe in dem Alter, aber die sexuelle Intention als solche ist nicht da. Da würde ich einen Unterschied sehen zu einem 10-Jährigen, der das mit einer sexuellen Lustkomponente macht.

Wie kommen Kinder überhaupt zu solchen Taten? Sind sie vorher selbst Opfer sexuellen Missbrauchs geworden?

Nicht unbedingt. Bei unserem Projekt hatten die Kinder und Jugendlichen zwar zu einem Teil selber sexuelle Missbrauchserfahrungen, und eine Reihe von ihnen hat auch so genannte stellvertretende Erfahrungen gemacht – das heißt, sie haben erlebt, dass jemand aus dem nahen Umfeld, etwa die Mutter, sexuelle Gewalt erfahren hat. Aber es gibt hier keinen Kausalzusammenhang. Viele der Täter haben solche Erfahrungen nicht gemacht. Umgekehrt gibt es auch viele Kinder und Jugendliche, die missbraucht wurden, aber selbst nicht solche Übergriffe machen. Dafür müssen immer noch andere Faktoren hinzukommen: Entwicklungsstörungen, besondere Frustrationen, vielleicht eine Außenseiterposition in der Schule – die Gründe können vielfältig sein. Auffallend ist, dass viele Täter eher zurückgezogen sind, wenig Kontakte zu Gleichaltrigen haben. Und einige haben einen recht hohen Pornokonsum – was man ja auch nicht unbedingt erwartet.

Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus dem Projekt?

Dass wir vielen Kindern helfen konnten. Nicht nur in ihrer sexuellen Entwicklung, sondern auch in einigen anderen Bereichen, wo sie Probleme hatten: im schulischen Bereich etwa oder in der Erziehung. Diese Erkenntnis ist besonders wichtig, weil es aus Politik und Justiz oft genug heißt: Alle wegschließen! Aber wenn wir qualifizierte Angebote haben mit guten und engagierten Mitarbeitern, dann können wir helfen. Dann ist die Chance, dass es nicht zum Rückfall kommt, deutlich höher. Eine frühe Therapie ist der beste Opferschutz.INTERVIEW: SUSANNE GANNOTT