Schwarze Akten

Aufklärung im Mordfall Buback, der die Republik seit Jahrzehnten bewegt, sieht anders aus. Das Oberlandesgericht Stuttgart scheiterte jetzt an einer Mauer aus RAF und Staatsschutz. Verena Becker ist zu vier Jahren Haft verurteilt. Allerdings nicht wegen des Dreifachmordes von Karlsruhe, sondern eher wegen ihrer Mitgliedschaft in der RAF. Das politische Attentat auf den Generalbundesanwalt vom 7. April 1977 bleibt ungeklärt. Was in geschwärzten Akten steht, ist ein Staatsgeheimnis. Analyse einer Kapitulation

von Thomas Moser

Die Begründung ist frustrierend: Das Gericht erklärte, es habe nicht nachgewiesen werden können, dass Becker 1977 an dem Mordkommando beteiligt war und die tödlichen Schüsse vom Beifahrersitz des Motorrades aus abgegeben hat. Doch schuldig sei sie, weil sie innerhalb der RAF-Gruppe den Mord mitbeschlossen habe. Zweieinhalb Jahre gelten als verbüßt, sodass sie vermutlich nicht ins Gefängnis muss.

Auch nach fast zwei Jahren Prozessdauer konnte das Gericht den Buback-Mord, mit dem der sogenannte Deutsche Herbst begann, nicht aufklären. Ebenso die mögliche Verwicklung des Verfassungsschutzes. Es musste schließlich vor einer doppelten Mauer aus RAF und Staatsschutz kapitulieren. Die Medienberichterstattung nach dem Urteil hat gezeigt, dass der doppelbödige Buback-Becker-Prozess von Stuttgart immer noch nicht verstanden wird.

Mit den Plädoyers prallten die verschiedenen Sichtweisen der Prozessparteien auf den Buback-Komplex noch einmal aufeinander, unvereinbar wie die Vorzeichen Plus und Minus. Sie legten aber auch die tatsächlichen Interessen an diesem Prozess offen.

Manche Zeugen waren für Ankläger „Lügner“

Der Vertreter der Anklage, Bundesanwalt Walter Hemberger, stellte Zeugen, deren Aussage nicht in seine Tatversion passen, wonach zwei Männer den Mord verübten und unter keinen Umständen Verena Becker, als „Lügner“ hin. Er verbreitete Unrichtigkeiten wie: Der bei der Festnahme von Becker und Sonnenberg gefundene Schraubenzieher aus dem Tatmotorrad sei im Rucksack von Sonnenberg sichergestellt worden. Hemberger weiß, dass das nicht stimmt. Weil die Polizei die Gegenstände vor Ort durcheinandergeworfen hatte, konnten sie nicht mehr eindeutig zugeordnet werden. Oder seine Aussage: Weil in den Motorradhelmen keine DNA-Spuren von Verena Becker gefunden wurden, könne „ausgeschlossen“ werden, dass Becker die Helme trug. Unsinn: Nichtspuren belegen nicht, dass jemand nicht am Tatort oder bei der Tat beteiligt war.

Die Hauptverhandlung habe ergeben, so die Bundesanwaltschaft (BAW), dass Christian Klar, Günter Sonnenberg und Knut Folkerts die Täter von Karlsruhe gewesen seien. Das behauptet die Behörde seit 35 Jahren. Immerhin räumte sie ein, Becker habe mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet. Die BAW wertete dies als strafmildernd und insofern als positiv. Für das Tatjahr darf das allerdings nicht gelten. 1977, so die BAW, sei Becker keine von einem Geheimdienst geführte Informantin gewesen.

Nachdem also Becker für das konkrete Attentat in Karlsruhe entlastet worden war, beschäftigte sich die zweite Prozessvertreterin der Bundesanwaltschaft, Oberstaatsanwältin Silke Ritzert, mit den belastenden Momenten für die Angeklagte. Und die kann man in einem Satz zusammenfassen: Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung RAF. In der Anklageschrift war Becker noch vorgeworfen worden, den Tatort ausgespäht und an der unmittelbaren Tatvorbereitung beteiligt gewesen zu sein. Diesen Anklagepunkt nahmen die Ankläger in ihrem Plädoyer unvermittelt und mit einer lapidaren Bemerkung zurück: Das habe keine Bedeutung mehr. Becker sei „wahrscheinlich im Nahen Osten“ gewesen. So hatte die es in ihrer Aussage am 14. Mai selbst dargestellt. Einen Beleg dafür gibt es nicht.

Nachgewiesen sind DNA-Spuren Beckers auf den Bekennerschreiben. Nach Ansicht der Bundesanwälte wurden die Texte aber von Brigitte Mohnhaupt und Sieglinde Hofmann formuliert. Die Ankläger brachten ihr insgesamt neunstündiges Plädoyer auf die Formel: „Schuldig, aber nicht die Schützin.“ Sie forderten vier Jahre und sechs Monate Haft wegen Beihilfe, wobei zwei Jahre und vier Monate wegen bereits verbüßter Haft und U-Haft abgezogen werden sollten. Die Zeitungen berichteten ausführlich über dieses Plädoyer und übernahmen undistanziert die Sicht der Karlsruher Behörde.

Heftige Kritik von Bubacks Sohn

Bei dem darauffolgenden Plädoyer von Nebenkläger Michael Buback, der seine Sicht zehn Stunden lang vortrug, war das dann anders. Buback trat nicht als Opferangehöriger auf, sondern wollte eine sachliche „kriminalistische Aufschlüsselung“ des Komplexes vornehmen. Ihm ging es ganz im Gegensatz zur Bundesanwaltschaft nicht um Beckers Mitgliedschaft in der RAF und deren prinzipielle Entscheidung, den Generalbundesanwalt zu ermorden, oder etwa um die Frage, wer die Bekennerschreiben verschickte, sondern ausschließlich um das politische Attentat vom 7. April 1977.

Nach Ansicht Bubacks sei die Aufklärung dieses Verbrechens nicht sonderlich schwierig, sondern nur wegen „unzulässiger Eingriffe“ und „unakzeptabler Unterlassungen“ bei den Ermittlungen nicht geschehen. Das Motiv dafür liege in der Verbindung der Angeklagten mit dem Verfassungsschutz.

Buback sieht Becker aufgrund der Indizien (unter anderem Besitz der Tatwaffe, Besitz eines Schraubenziehers aus dem Werkzeugset des Tatmotorrades, Haar im Motorradhelm) als Mordschützin für überführt an. Er ist überzeugt, dass Verena Becker schon vor 1981, als laut Akten Befragungen mit ihr beim BfV in Köln durchgeführt wurden, Kontakt zum Verfassungsschutz gehabt habe. Auch weil sie sich 1981 mit ihrem Wunsch nach Hafterleichterungen gezielt an den Verfassungsschutz und nicht an die Bundesanwaltschaft gewandt hatte, die die richtige Adresse gewesen wäre. Sie müsse da schon länger Kontakt zu dem Amt gehabt haben. Das Zustandekommen, die Art und die Dauer der Zusammenarbeit hätten bisher aber nicht festgestellt werden können. Der staatliche Schutz für die Quelle Becker bestehe bis heute fort und damit auch der Schutz für die Täterin Becker.

Es gibt einen Parallelfall, in dem Buback die Bestätigung dieser staatlichen Schutzpraxis sieht: Er betrifft das RAF-Mitglied Volker Speitel. Speitel hatte den Waffenschmuggel in die JVA Stammheim organisiert und kooperierte später als Kronzeuge mit dem Staat. Die Bundesregierung verhinderte jetzt nicht nur, dass Speitel im Prozess gehört werden konnte, sondern auch, dass Speitel-Akten dem Gericht zur Verfügung gestellt wurden. Sein Aufenthaltsort wird geheim gehalten. Das zeige, so Buback, dass die Bundesrepublik einmal gegebene Schutzzusagen einhalte. Wie im Fall Speitel, so auch im Fall Becker. Damit wird außerdem die einseitige Schuldzuweisung relativiert, die Ex-RAF-Mitglieder müssten reden. Hier verhindert der Staat, dass eines redet.

Für die Familie Buback zählt nur die Aufklärung der Tat

Obwohl für Michael Buback Verena Becker die Mörderin seines Vaters ist, forderte er ausdrücklich keine Strafe für sie und begründete das mit dem ungeklärten Geheimdiensthintergrund des Falles. Da man nicht ausschließen könne, dass Becker 1977 unter dem Einfluss des Verfassungsschutzes stand, und da unklar ist, welchen Anteil der Verfassungsschutz möglicherweise an der Tat hat, lasse sich auch der eigenverantwortliche Tatbeitrag Beckers nicht feststellen. Deshalb könne er keine Strafe fordern, die ansonsten für Mord lebenslang heißen müsse. Überhaupt, so Buback zum Schluss, sei das Urteil für die Familie Buback ohne Bedeutung. Für sie zähle nur die Aufklärung der Tat.

Bundesanwalt Hemberger, eigenartig genug, reagierte unmittelbar auf das zweitägige Plädoyer, nannte es eine „Unverfrorenheit“, wie hier Beamte einer Straftat, nämlich der Rechtsbeugung, bezichtigt würden, und sagte dann wörtlich: „Jedes weitere Wort ist der Vortrag des Nebenklägers nicht wert.“ Auch für Nebenklägeranwalt Matthias Rätzlaff, der den Bruder des ermordeten Generalbundesanwalts, Horst Buback, vertrat, steht Becker aufgrund der Indizien als Schützin auf dem Motorrad fest. Er forderte eine lebenslange Freiheitsstrafe für sie. Rätzlaff kritisierte die bundesdeutsche Kronzeugenregelung. Nämlich, dass ein Kronzeuge, wie eben Volker Speitel, nachdem er in einem Fall aussagte, das Recht bekomme, in allen anderen Fällen schweigen zu dürfen.

Die Becker-Verteidiger Walter Venedey und Hans Wolfgang Euler sagten in ihren Plädoyers, wie nicht anders zu erwarten, Verena Becker sei nicht an dem Attentat beteiligt gewesen. Sie schlossen sich den Ausführungen der Bundesanwaltschaft kurz und bündig an, weil sie „richtig“ seien (Venedey), beziehungsweise weil sie „von uns sein könnten“ (Euler). Eine kuriose wie zugleich logische Deckungsgleichheit zwischen Anklage und Verteidigung. Die Verteidigung bestritt dann den Vorwurf der BAW, Becker habe sich innerhalb der RAF besonders für die Ermordung des Generalbundesanwalts eingesetzt. Entscheidungen habe die Gruppe kollektiv getroffen. Sie forderte Freispruch für Becker und eine Entschädigung für die U-Haft von August bis Dezember 2009.

Wie schon die Bundesanwaltschaft griff auch die Verteidigung Michael Buback scharf an. Rechtsanwalt Venedey nannte dessen Satz, das Urteil habe für die Familie Buback keine Bedeutung, ein „Bekenntnis zur Selbstjustiz“. Bundesanwalt Hemberger pflichtete dem am Ende des Sitzungstags vor der Presse bei und sprach von einer „Missachtung des Gerichtes“ durch Buback.

Der konnte sich nicht wehren, weil er nicht da war. Buback weilte in den USA zu einer weltweiten Chemikertagung, wo er unabkömmlich war. Er hatte das schon vor längerer Zeit dem Gericht mitgeteilt. Es nahm darauf keine Rücksicht und legte die Plädoyertage der Verteidigung ausgerechnet in diesen Zeitraum. Die Süddeutsche Zeitung schrieb jedoch, Buback sei demonstrativ zu Hause geblieben, weil er vom Prozess nichts mehr erwarte. Dass Elisabeth Buback da war, ließ sie unerwähnt.

Der Urteilsspruch wirft Fragen nach den Konsequenzen auf: Müssten nun nicht auch die anderen RAF-Mitglieder noch wegen des Buback-Attentats angeklagt werden? Und was ist mit den anderen Taten, die die Terrorgruppe kollektiv beschloss?

Eine Beteiligung am eigentlichen Anschlag am 7. April 1977 habe Verena Becker nicht nachgewiesen werden können, so das Gericht. Die Indizien reichten nicht aus. Eine klassische Entscheidung nach dem Grundsatz: „Im Zweifel für die Angeklagte“, und insofern richtig. Allerdings nahm das Gericht die Bewertung des vorliegenden Beweismaterials mit einer Tendenz vor: im Sinne der bisherigen Ermittlungsergebnisse, Akten vor Zeugen. Wo sich Widersprüche ergaben, glaubten die Richter den Akten und nicht den Zeugen. Offensichtliche Aktenmanipulationen wurden damit schlicht ignoriert.

Tatzeugen, die eine Umrundung des Buback-Autos durch das Tatmotorrad gesehen habe wollen, wurden Erinnerungsfehler unterstellt. Damit wurde gleich die Beobachtung gerade dieser Zeugen kassiert, eine Frau habe geschossen. Die Tatwaffe ordnete es ziemlich freihändig Günter Sonnenberg zu. Behauptungen, es habe bewusste Manipulationen der Ermittlungen gegeben, sei zu widersprechen, so Richter Hermann Wieland. Wenn gesagt werde, es habe eine schützende Hand für Becker gegeben, sei das eine Verunglimpfung der Ermittlungsbehörden und ihrer Beamten.

Gericht weist Vorwürfe an Verfassungsschutz zurück

Auch Vorwürfe, so der Senatsvorsitzende weiter, die Angeklagte habe die Tat unter den Augen des Verfassungsschutzes begangen oder dieser habe sie gar dazu verleitet, seien zurückzuweisen. Und schließlich: Der Verfassungsschutz habe sich um Zugang zur zweiten Generation der RAF bemüht, was ihm aber nicht gelungen sei. Wie der Vorsitzende Richter zu solch weitreichenden Aussagen kommen kann, wo doch dem Gericht VS-Akten in großem Stil verweigert oder nur geschwärzt zur Verfügung gestellt wurden und VS-Beamte vor Gericht weniger sagen durften als in der Öffentlichkeit, bleibt sein Geheimnis. Immerhin attestierte er, dass Verena Becker eine Quelle des BfV war.

Dem Gericht wurden in diesem Verfahren seine Grenzen aufgezeigt. Es musste sich 21 Monate lang von der Exekutive erniedrigen lassen, indem ihm Beweismaterial, das es für die Aufklärung eines dreifachen Mordes für nötig erachtet hat, nicht zur Verfügung gestellt wurde. Nun hat es diese Behinderungen in seinem Urteilsspruch nicht einmal ansatzweise benannt. Es hat kapituliert und sich unterworfen.

Allerdings tat das Gericht noch eine Aussage, die nicht geeignet ist, den Buback-Fall endgültig in einer historischen Gruft zu bestatten: Nicht nur der Schütze stehe nicht fest, sondern auch, wer das Motorrad fuhr und wer das Fluchtauto steuerte. Dass die Bundesanwaltschaft dem zum Trotz weiterhin ungerührt behauptet, das Attentat sei aufgeklärt, dokumentiert auf neue Weise die aufgetretenen Zweifel am Aufklärungswillen.