Nächstenliebe völlig falsch verstanden

Menschen mit Behinderung tauchen nur selten in der aktiven Kirchenarbeit auf

Foto: Jens Schulze

Viele denken bei Inklusion und Kirche vermutlich an Diakonie und Caritas. Das ist natürlich ein wichtiger Bereich, aber Inklusion sollte sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche der Kirche ziehen. Durch Gottesdienste, aber auch durch Ausschüsse. Menschen mit Behinderung sollten etwa nicht nur als Gemeindemitglieder mitgedacht werden, sondern auch als Aktive, als Mitarbeitende und auch in Leitungspositionen zu finden sein. Da gibt es bislang kaum Vorbilder und noch viel Luft nach oben.

Zwar sind sicher die wenigsten dagegen, dass Menschen mit Behinderung aktiv in der Kirche sind, aber es gibt immer wieder Barrieren. Etwa wenn Tagungen an Orten stattfinden, wo es keinen Fahrstuhl gibt. Das schließt direkt Menschen aus.

Ich studiere Theologie, weil ich mich dafür interessiere, Pastorin zu werden. Ich möchte Menschen dabei ermutigen, ihren Weg zu gehen. Im Studium merke ich auch, dass hinter manchen theologischen Gedanken ableistische Aussagen stecken. Etwa bei dem wichtigen und großen Thema Nächstenliebe. Für mich ist Nächstenliebe falsch verstanden, wenn dadurch eine Kluft entstehen kann durch eine „Die-und-wir-Erzählung“: wir Chris­t*in­nen und die Obdachlosen oder behinderten Menschen.

So kann der Eindruck entstehen, dass gewisse Personen „Objekte der Nächstenliebe“ sind. Schnell wird dann von „den Schwächsten“ gesprochen. Das steht im Gegensatz zu der christlichen Annahme, dass alle Menschen einen gleichen Wert haben und alle gleich von Gott geliebt werden. Durch die Darstellung, dass sich „die Starken“ um „die Schwachen“ kümmern, wird eine Grenze geschaffen. Als ob wir nicht selbst alle auch immer auf beiden Seiten stehen würden.

Gut finde ich, wie präsent das Thema Inklusion beim Kirchentag ist. Das hat auch eine Vorbildfunktion. Trotzdem gibt es da natürlich auch eine gewisse Vorstellung, was barrierefrei bedeutet, und auch da kann es wieder für Menschen Hürden geben. Es gibt dann Ge­bär­den­sprach­dol­met­sche­r*in­nen oder einen Fahrdienst für Menschen mit Rollstuhl, aber es gibt keine Organisation für Menschen, die nur eine bestimmte Strecke laufen können. Natürlich kann man nicht im Vorfeld alle möglichen Fälle mitdenken. Wichtig ist aber, wenn eine Person auf Barrieren hinweist, dass auch versucht wird, eine gute Lösung zu finden.

Für das diesjährige Onlineformat des Ökumenischen Kirchentags gebe ich einen Workshop zur digitalen Teilhabe und spreche über Untertitel, Alternativtexte, aber auch Ableismus in der Kirche. Vor allem in der digitalen Kirche habe ich den Eindruck, dass es viele junge Menschen gibt, die sich gerade vernetzen. Sie reflektieren verschiedene Formen von Diskriminierungen und wollen Kirche noch inklusiver für alle gestalten. Das ist für mich ein sehr großes Hoffnungszeichen, wenn ich an die Zukunft der Kirche denke.

Julia Schönbeck, 23