Geschichten, die zählen

Bücher von Lothar Müller| Brandon Taylor| Lisa Krusche| Julia Phillips| Shida Bazyar| Kerstin Hensel| Nastassja Martin| Michael Zichy| Jonas Lüscher| Manon Garcia| Benno Gammerl| Peter Longerich| Mary Gaitskill

Foto: Samuel Aranda/Panos

editorial
: Unter der Oberfläche

Über diese literataz, Pandemien, Normalisierungen und nötige Differenzierungen

Das ging jetzt doch schnell. Noch Anfang dieses Jahres generierte allein schon die Beobachtung, Rassismus und identitätspolitische Fragen seien die großen Trendthemen im literarischen Bereich, einige Aufmerksamkeit. Inzwischen sind wir weiter. Und zwar keineswegs, weil bereits der ablösende nächste große Trend anstünde. Sondern weil das Pauschale nicht mehr passt.

Sharon Dodua Otoos weite historische Bögen in „Adas Raum“ sind etwas anderes als die identitätspolitische Diskursaufhellung Mithu Sanyals in „Identitti“, sind etwas anderes als die hingejazzten Frauenporträts Bernardine Evaristos in „Mädchen, Frau etc.“ – um nur einige Neuerscheinungen zu nennen, die zuletzt breit wahrgenommen wurden. Literaturkritisch geht es da längst nicht mehr um Einteilungen und Rubrizierungen, sondern um Differenzierung, auch innerhalb der sogenannten postmigrantischen Literatur.

Diese Bewegung setzt sich mit den Romanen des US-amerikanischen Erzählers Brandon Taylor (S. 3) und der deutschen Autorin Shida Bazyar (S. 6) auch in dieser Literaturbeilage fort, die die taz zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt herausbringt – nicht wie üblich im März zur üblicherweise dann stattfindenden Leipziger Buchmesse, sondern im Mai, an einem Punkt also, an dem man dank fallender Inzidenzen und steigender Impfkontingente wieder auf gesellschaftliche Normalisierung in der Pandemie hoffen darf.

Normalisierung – was auch immer dieser Begriff meint. Wurden doch alle bisherigen Krisen stets zum Beschleuniger für das bereits unter der Oberfläche schlummernde Neue. Das lehrt uns auch ein Blick zurück in die Zeit der großen Cholerapandemie, in der die öffentliche Hygiene erfunden wurde und eine fundamentale Umwälzung aller Lebensbereiche und der Idee von Bevölkerung und Politik generell mit sich brachte. Lothar Müller erzählt in seinem wunderbaren Porträt Adrien und Marcel Prousts davon (S. 2).

Dass ein normales Leben für Juden und Jüdinnen in Deutschland noch immer nicht möglich ist, dürfte in den letzten zwei Wochen, angesichts des tobenden antisemitischen Mobs auf den Straßen und vor den Synagogen, ein paar Menschen mehr klar geworden sein. Weniger sichtbar, aber auch gefährlich ist der leise Antisemitismus, der aus der Mitte der Gesellschaft nie verschwunden ist. Immer wieder zeigen unterschiedliche Studien, dass jeder Vierte in Deutschland antisemitisch eingestellt ist. Da hilft es auch nicht, zwischen Israelkritik und Antisemitismus zu trennen. Tun die Antisemiten nämlich auch nicht. Peter Longerichs fulminante Untersuchung über deutschen Antisemitismus zeigt erschreckende Kontinuitäten in unterschiedlichen Zeitumständen (S. 11).

Dirk Knipphals, Tania Martini