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Ein letzter Rettungsanker

Fast täglich erreichen uns Bilder von Menschen, die auf der Flucht über das Mittelmeer in ihren überfüllten Booten in Seenot geraten.
Die Initiative Alarmphone unterstützt die Geflüchteten mit einer Notfalltelefonnummer und versucht, ihre Rettung sicherzustellen

Manchmal fühlt man sich in der konkreten Situation einfach nur hilflos

Von Cordula Rode

No rescue, but alarm – seit sieben Jahren hilft die Initiative Alarmphone flüchtenden Menschen, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten. Im Unterschied zu zivilen Hilfsorganisationen wie Sea-Watch oder Sea-Eye, die eigene Schiffe und Hel­fe­r*in­nen vor Ort einsetzen, ist es das Ziel des Notruftelefons, den in Lebensgefahr geratenen Menschen die Sicherheit zu geben, dass ihr Notruf an die Küstenwache zusätzlich von einer weiteren Stelle wahrgenommen und weitergeleitet wird. Alarmphone gibt den Flüchtenden eine zweite Stimme.

Die Initiative ist in den drei Mittelmeerbereichen mit den am häufigsten genutzten Fluchtwegen aktiv: in der Ägäis (zwischen Griechenland und der Türkei), im zentralen Mittelmeer (zwischen Libyen/Tunesien und Italien) und im westlichen Mittelmeer (zwischen Marokko und Spanien). Ehrenamtliche Ak­ti­vis­t*in­nen in zahlreichen Städten in Nordafrika und Europa nehmen rund um die Uhr eingehende Notrufe an.

Die überlebenswichtigen Kern­fragen können so schnell geklärt werden: Wie viele Menschen befinden sich an Bord des in Seenot geratenen Schiffes, in welchem Zustand ist das Schiff und wie sind seine GPS-Koordinaten? Die Hel­fe­r*in­nen leiten die erhaltenen Informationen an die Küstenwache der entsprechenden Region weiter, beobachten deren Reaktion und dokumentieren das gesamte Geschehen vom Notruf bis zur Rettung. Sie sorgen dafür, dass der Kontakt nicht abbricht, indem sie im Bedarfsfall die Handys der Hilfesuchenden mit neuem Guthaben aufladen. Verzögert sich die Reaktion der zuständigen Behörden, wird versucht, durch öffentlichen Druck die Rettung zu beschleunigen. Darüber hinaus werden zivile Frachtschiffe, Tanker und andere Schiffe, die in der Nähe sind, kontaktiert und um Unterstützung gebeten.

Verbreitet wird die Notrufnummer über direkte Kontakte in den Communitys der Mi­gran­t*in­nen und Flüchtlinge in den wichtigen Transitländern Nordafrikas und in der Türkei. Flyer und Videos informieren über die Risiken der Überfahrt über das Mittelmeer, geben Hinweise, wie sich Gefahren verringern lassen, und weisen auf die Notfallnummer hin.

Fast 200 Menschen arbeiten für das transnationale, spendenfinanzierte Netzwerk mit Gruppen in vielen Ländern nördlich und südlich des Mittelmeers. Die Ak­ti­vis­t*in­nen werden vor ihrem ersten Einsatz umfassend geschult. Grundlage dafür sind Handbücher mit Richtlinien und Handlungsanweisungen, die sich auf die Erfahrungen von Menschen stützen, die in den letzten Jahren selbst als Flüchtende das Mittelmeer überquert haben. Der Anwalt Muhammad al-Kashef gehört seit fünf Jahren zum Berliner Team des Notruftelefons und weiß aus eigener Erfahrung, wie belastend die Einsätze sein können: „Manchmal fühlt man sich in der konkreten Situation einfach nur hilflos. Und es ist schwer, nicht die Hoffnung auf Besserung zu verlieren.“

Als im April dieses Jahres 130 Menschen vor der Küste Libyens mit ihrem Boot kenterten und ertranken, war Aktivistin Lara Dade vom Alarmphone im Dienst und erlebte die Ohnmacht am eigenen Leib. Im taz-Interview berichtete sie, dass keine der alarmierten Küstenwachen von Italien, Libyen und Malta den Menschen in Lebensgefahr zu Hilfe kam. Auch Frontex, die umstrittene Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, blieb untätig, obwohl sie zeitweilig mit einem Flugzeug über dem Schlauchboot kreiste. Dades bitteres Fazit: „Das war kein Bootsunglück – das war ein bewusstes Sterbenlassen.“

Bereits seit 2011 gibt es die Initiative Watch the Med, die Seenot­fälle auf den Flüchtlingsrouten im Mittelmeer dokumentiert und Fälle von Nichtrettung anprangert und zum Teil vor Gericht bringt. Das Alarmphone entstand 2014 aus dem Wunsch heraus, diese Fälle nicht nur zu dokumentieren, sondern selbst eingreifen und den Geflüchteten Unterstützung bieten zu können, alarmphone.org.

Ähnliche Zielsetzungen haben die Initiativen Alarm Phone Sahara (gegründet 2018), das Migranten auf den gefährlichen Routen durch die Wüste unterstützt, und der Pushback Alarm Austria, der seit Anfang dieses Jahres Menschen, die in Österreich angekommen sind und einen Asylantrag stellen möchten, mit einer Notrufhotline vor einem Pushback (also der illegalen Rückführung) über Slowenien bis Bosnien schützen will.

Das restriktive europäische Grenzregime, das durch zunehmende Militarisierung der Grenzen die flüchtenden Menschen auf immer gefährlichere Routen treibt, und der gleichzeitige Unwille der europäischen Staaten, bei der Rettung von in Seenot geratenen Menschen konsequent zu handeln sowie die gängige Praxis, die Geflüchteten gewaltsam und illegal in ihre Heimatländer zurückzutreiben (die sogenannten Pushbacks) sind aus Sicht des Netzwerks die Ursachen für die vielen vermeidbaren Todesfälle im Mittelmeer.

Eine schnelle Lösung sieht Muhammad al-Kashef nicht: „Hier ist die Politik gefragt. Man muss nicht sofort alle Grenzen öffnen – aber es muss ein sicherer Weg für die Menschen gefunden werden, die in höchster Not und unter Einsatz ihres Lebens aus den für sie unerträglichen Lebensbedingungen in ihren Heimatländern flüchten.“ Und genau hier sieht auch Alarmphone seine Aufgabe: „Unser Netzwerk ist so viel mehr als nur ein Notruftelefon“, sagt al-Kashef. „Wir wirken daran mit, die europäische Grenzpolitik in Frage zu stellen und zu verändern und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die tödlichen Auswirkungen dieser Politik zu richten.“

Am 25. und 26. Juni wird die lange vorbereitete Konferenz „From the sea to the citys“, an der Alarmphone maßgeblichen Anteil hat, online und vor Ort in Palermo, Sizilien, stattfinden, Muhammad al-Kashef gehört zu den geladenen Rednern. Denn während die EU eine Politik der Abschreckung verfolgt, finden sich immer mehr Gemeinden und Städte in Europa, die bereit sind, Verantwortung für den Schutz von Menschenleben zu übernehmen, indem sie Geflüchtete aufnehmen und so den europäischen Gedanken neu beleben. Ziel der von den Bürgermeistern Potsdams und Palermos initiierten Konferenz ist die Schaffung eines solidarischen europäischen Netzwerks von Städten, Gemeinden und der Zivilgesellschaft und einer Politik, die beim Thema Migration endlich die Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt.