berliner szenen
: Ein Leben ist doch schon genug

Eine Katze hat sieben Leben, sagt das Mädchen neben mir auf der Bank.

Sie isst ein Waffeleis und trägt einen Sommerhut, ihr Name ist Nina oder Ninja. Mit ihren Eltern, die damit beschäftigt sind, Handtücher, Strandmuschel, SUP-Board und die Reste vom Abendbrot zu verstauen, ihrer älteren Schwester und ihrem kleinen Bruder ist sie schon ganz frühmorgens an den See rausgefahren. Sie ist den ganzen Tag im Wasser gewesen und wirkt ein bisschen apathisch.

Wir schauen zu, wie der Spiegel des Sees immer blanker und das Licht sanfter wird. Bald werden die Bäume drüben auf der Insel dunkel wie Moos sein.

In Ula Stöckels Film „Neun Leben hat die Katze“ proben fünf Frauen den Aufstand gegen das Patriarchat – und scheitern. Nur eine, Kirke, macht, was sie will. Sie ist das Ideal, sie verführt die Männer oder verwandelt sie in Schweine.

Und ich dachte, neun, sage ich.

Ist doch egal, ob man sieben oder neun Leben hat, sagt das Mädchen.

Stimmt auch wieder. Andererseits: Nach dem sechsten wird man wahrscheinlich anders darüber denken.

Ich sage: Hättest du gerne sieben Leben?

Sie atmet tief ein, ihr Blick steckt am Horizont fest, wo ein regenbogenfarbenes Gummieinhorn in der Größe eines Einfamilienhauses vorüberzieht, im Schlepptau hat es ein kleines Einhorn, ein Einhörnchen.

Erst als das Gespann hinter der Inselspitze ver­schwunden ist und das Eis gefährlich Schlagseite bekommen hat, dringt meine Frage zu ihr durch. Sie blickt empört.

Bist du total verrückt geworden? Ich hab ja noch nicht mal eins fertig, sagt sie.

Dann kommt ihre Schwester sie abholen. Im Gänsemarsch laufen sie alle die Anhöhe hinauf Richtung Parkplatz. Sascha Josuweit